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Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iva Procházková
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älteren Jungs unter der engen Brückenwölbung durch. Es ist eine von Erwachsenen streng verbotene Aktion. Ich hab dieses Jahr zum ersten Mal mitgemacht. Hanka schon öfter. Ich weiß, ich habe keine Wahl. Wenn sie mich ernst nehmen soll, muss ich die Hand zu der Leitung ausstrecken. Wenn Strom durchfließt, dann … Ich sehe klar, was dann passiert: ein Schmerzensblitz, meine verkrampften Finger und aufgerissenen Augen, die umkippende Leiter, der Schatten meines stürzenden Körpers. Überbleibsel der Gefühle. Wenn ich am Boden aufklatsche, werde ich nichts mehr spüren. Mischa wird zu schreien anfangen, um Hilfe herbeizurufen. Hanka wird neben mir niederknien und versuchen, mich ins Leben zurückzuholen. Wahrscheinlich wird sie mich künstlich beatmen. Sie wird ihren Mund an meinen pressen (Mensch, das werde ich ja gar nicht mehr mitkriegen!), ihre Augen werden mich von so nah anschauen wie noch nie und es werden Tränen darin sein. Tränen? Nicht sicher.
    Ich hole Luft, presse Zähne und Knie zusammen, strecke den Arm aus. Der letzte Augenblick des Zögerns, die letzte Sekunde der Unentschlossenheit. Es gibt kein Zurück: Ich fasse zu. Vater hatte recht. Kein Blitz, kein Krampf, kein Schmerz. Die Drähte fühlen sich kalt auf meiner Haut an. Ich atme aus. Langsam beruhige ich mich. Glücklicherweise steht Hanka tief unten, kann also mein Gesicht nicht sehen – ich habe Schweißperlen auf der Stirn. Ich richte den Drachenflügel in die Vertikale und ziehe ihn zwischen den Drähten heraus.
    Â»Ich hab ihn«, sage ich. Als wäre nichts gewesen. Als hätte ich einen Ball aus dem Gebüsch geholt. »Ich habe euren umwerfenden Superphönix.«
    ***
    Kirke schüttelte den schwarzen Kopf und aus ihrer Kehle drang ein kurzes Wiehern, das einem Lachen ähnelte. Darek richtete die Unterlage, spannte den Sattelgurt und kontrollierte den Sattel. Er schien ihm für den weichen Rücken der Stute zu schwer, passte aber gut. Kirke war ein ausgezeichnet gebautes Reitpferd. Jetzt, da sie ein wenig zugenommen hatte, sah sie umwerfend aus: bemuskelte Lenden, runde Kruppe, lange, sehnige Beine. Durch das Hin- und Hertreten, das Peitschen mit dem Schweif und die ungeduldigen Bewegungen ihres Halses gab sie zu verstehen, dass sie sich auf den Ausritt freute. Seit Anton sie gebracht hatte, hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, zu zeigen, was sie konnte. Einmal hatte Darek sie mithilfe von Herrn Havlik gesattelt und sich auf ihren Rücken geschwungen, sie waren aber nur unten am Schuppen geblieben. Die Stute war im Kreis herumgelaufen, hatte vorbildlich auf Befehle reagiert und einen gehorsamen, ganz normalen Eindruck gemacht. Darek hatte große Lust gehabt, mit ihr auf die Hasenwiese auszureiten, doch Herr Havlik hatte es ihm verboten. »Ich hab bei ihr ein ganz lottriges Gefühl«, hatte er behauptet. Herrn Havliks lottriges Gefühl bedeutete, dass seine Intuition zu äußerster Vorsicht riet. Obwohl sich Kirke mit erhabener Brust, aufgerichtetem Kopf und nach vorne gestellten Ohren präsentierte, hatte er sie finster angeschaut. »Sie macht eine Miene wie ein Geschenk unter dem Weihnachtsbaum, wenn du aber die aufgemotzte Packung aufreißt und die Samtschleife öffnest, wirst du sehen, was für ein schofliges Luder sie ist.«
    Darek war sich nicht sicher, ob ein schofliges Luder das Gleiche war wie eine Kanaille, ein Unflat, ein Schlawiner oder ein Dreckpodagra, weil aber Herr Havlik all diese Ausdrücke im Zusammenhang mit der Krise, dem launischen Wetter, verlogenen Politikern und den Schmerzen in seinem Bein gebrauchte, war ihm der Begriff im Großen und Ganzen klar. Was Kirke anging, teilte Darek seine Meinung nicht. Sie sah sanft und edel aus. Er glaubte nicht, dass sie ein Luder war. Sie kam ihm auch nicht wahnsinnig vor. Er musste zugeben, dass sie einen ziemlich merkwürdigen Blick hatte, so einen unbestimmten; es schien, dass sie nicht richtig scharf sehen konnte, aber sie begrüßte Darek immer stürmisch und wieherte am lautesten und fröhlichsten von allen Pferden. Als er ihr das Gebiss einlegte, hielt sie still wie ein Schäfchen und ließ sich willig zum Bänkchen führen.
    Â»Sieht ganz so aus, als ob sie es kaum erwarten könnte«, bemerkte Hanka. »Schau, wie ungeduldig sie ist!«
    Â»Sie ist eine Dressurstute«, sagte Darek. »Sie ist auf Turnieren gelaufen und war sogar

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