Orangentage
kein Saft mehr drauf.«
»Woher willst du das wissen?«
»Vater hat es gesagt. AuÃerdem habe ich Augen im Kopf. Ich erkenne tote Leitungen. Dort an dem Mast endet sie â man hat sie gekappt. Wozu wäre sie hier noch nütze?« Ich trete gegen die feuchte Stallmauer, ein Stück Putz fällt ab. »Das ist eine Bruchbude! Wer soll hier noch Licht anmachen?«
Hanka wendet nichts mehr ein. Ich habe sie überzeugt. Schnell holen wir die Leiter von drinnen und lehnen sie gegen die hintere Wand des Kuhstalls. Ein blechernes Geräusch ist zu hören, als das obere Ende der Leiter das Gesims berührt. Sehen kann man es kaum, dafür ist es schon zu dunkel. Auf der StraÃe sind die Laternen schon längst angegangen, bis hierher reicht ihr Licht aber nicht.
»Komm, wir holen ihn besser morgen«, schlägt Mischa vor. Er hat am wenigsten Abenteuerlust von uns dreien. »Du wirst dich doch wegen eines blöden Drachens nicht umbringen!«
»Warum sollte ich mich umbringen?«
»Man sieht ja nichts mehr.«
»Ich kann noch was sehen«, verkündet Hanka. »Ich kann ja hochklettern.«
Mischa lacht sie aus. »Du? Du stolperst doch auch zu Hause immer auf der Treppe!«
»Wann bin ich denn bitte gestolpert?«
Ich lasse sie diskutieren und beginne hochzusteigen. Es ist ein Kinderspiel. AuÃerdem kenne ich die Leiter, ich bin schon zigmal auf ihr hochgeklettert, als wir im alten Obstgarten hinter dem Kuhstall Schattenmorellen gepflückt haben. Bevor sie es merken, bin ich schon fast in der Mitte. Unter mir höre ich Mischa.
»Mann! Er ist oben!«, stöÃt er erstaunt hervor. »Darek, halte dich fest!«
»Haltet lieber unten gut fest!«, rufe ich ihnen zu. Hier oben schwingt die Leiter, ich muss langsamer werden, damit sie nicht umkippt. Ãber meinem Kopf sehe ich die Isolatoren. Sie kleben oben am Schild, weià und rundlich wie Gänseeier, von ihnen führen die Drähte zum Mast. Ich teste die Festigkeit des Dachsimses â er ist bröckelig, die Blechmanschette hält aber immer noch. Mit einer Hand umfasse ich sie und schaue mich um. Hier oben ist es noch nicht so dunkel wie unten am Boden. Der Drachen ist etwa einen halben Meter entfernt von mir hängen geblieben und er scheint heil zu sein, weder gebrochen noch zerrissen. Gegen den Himmel erkenne ich seinen Rumpfumriss, die gespannten Flügel, einer davon in der Leitung verheddert. Ich werd an ihn herankommen, ohne Zweifel, allerdings muss ich ihn anheben oder anschubsen, um ihn zu befreien. Die Lenkschnur wird mir nicht helfen, sie ist gerissen und der Rest von ihr weht auÃerhalb meiner Reichweite im Wind.
Schon bin ich dabei, die Hand auszustrecken, als ich meine Knie bemerke. Sie schlackern. Das Zittern geht langsam in die Schenkel über, in den Bauch, die Arme, in meinen ganzen Körper. Es signalisiert mir Angst, die ich unterdrücke. Angst, die ich nicht bereit bin, zuzulassen.
»Darek? Kommst du dran?«, ertönt Hankas Stimme von unten.
»Ja, klar!«
»Bist du sicher, dass da kein Strom drauf ist?«
Ich lecke mir die Lippen ab und fange an zu pfeifen. Diese Frage ist keiner Antwort würdig! In Wirklichkeit aber frage ich mich das selbst die ganze Zeit. Noch vor ein paar Minuten war ich mir sicher, jetzt ist meine Gewissheit verschwunden. In Wind und Dunkelheit aufgelöst. Aus meinem Zimmerfenster sehe ich nicht nur täglich den FORTSCHRITT, sondern auch die Leitungsdrähte und den Strommast, der vom Holunder überwuchert ist. Die Drähte führen nirgendwo mehr hin. Wirklich nirgendwohin? Was, wenn ich Vater falsch verstanden habe? Was, wenn es da hinter dem hohen Busch noch weitergeht �
»Darek«, höre ich Mischa. Seine Angst ist unverhohlen. Im Gegensatz zu meiner. »Ich würde es lieber lassen. Wir machen das morgen früh, bei Licht.«
»Hat dich jemand um Rat gefragt?«, rufe ich herunter.
»Mischa hat recht«, schlieÃt Hanka sich an. »Es ist zu gefährlich, komm runter.«
Ich weiÃ, sie sagt es nur so. Sie will nicht, dass ich herunterkomme. Sie mag gefährliche Situationen. Und mutige Freunde. AdrenalinstöÃe. Ich habe gesehen, wie sie auf dem Fahrrad unter den Eisenbahnschranken durchgefahren ist. Sie hat keine Angst, die schwersten Skipisten runterzufahren. Im Frühling, wenn das Schmelzwasser die Flüsse überschwemmt, schwimmt sie mit ein paar
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