Orchideenhaus
in ihren wenigen gemeinsamen Wochen war es ihnen seiner Ansicht nach gelungen, ihre Probleme hinter sich zu lassen.
Ihre Schwangerschaft war ihm Trost und Beweis dafür gewesen, dass es sich um eine völlig normale Ehe handelte. Er trauerte um das verlorene Kind, wusste jedoch, dass der Kummer seiner Frau noch viel größer sein musste.
Harry hatte in zahlreichen schwülen Nächten genug Zeit gehabt, über seine Gefühle für Olivia nachzudenken. Manche der anderen Gefangenen weinten aus Schmerz darüber, von ihrer Frau getrennt zu sein, und sprachen mit allen, die bereit waren, ihnen zuzuhören, über sie, oder sie bewahrten abgegriffene, vergilbte Fotos nahe ihrem Herzen auf. Sie schwärmten von ihrer Liebe und davon, wie sehr sie das Körperliche in ihrer Beziehung genossen hatten, das ihnen jetzt umso mehr fehlte. Harry war ein geduldiger Zuhörer, hatte aber ein schlechtes Gewissen, weil er nichts von alledem für seine Frau empfand.
Er mochte Olivia sehr und schätzte ihre Klugheit, Kraft und Schönheit sowie die Art und Weise, wie sie Wharton Park geleitet hatte, als Adrienne ihre Hilfe brauchte. Sie war die perfekte Herrin des Guts und ein geeigneter Ersatz für seine Mutter.
Aber …
Liebte er sie?
Harry nahm einen weiteren Schluck Kaffee und zündete sich die nächste Zigarette an. Ein wenig tröstete es ihn, dass die Männer, die ihm ihr Herz ausgeschüttet hatten, ihre Ehefrauen selbst hatten aussuchen können, denn bei ihm war es anders gewesen. Wenn seine Mutter nichts von einer Heirat und den damit verbundenen Vorteilen erwähnt hätte, wäre Harry zweifellos unverheiratet in den Krieg gezogen. Die Idee, Olivia oder irgendeine andere Frau zu heiraten, wäre ihm überhaupt nicht gekommen.
Doch er wusste, dass seine Situation alles andere als ungewöhnlich war. Arrangierte Ehen gab es seit Jahrhunderten auf der ganzen Welt. Seine Gefühle mussten hinter seinen Verpflichtungen gegenüber der Familie zurückstehen. Für manche Menschen war das Leben nun einmal so.
Harry drückte seine Zigarette aus. Vielleicht verlangte er zu viel. Möglicherweise liebte er sie doch … Woher sollte er wissen, wie die Liebe zwischen Mann und Frau aussah? Er war ein emotionaler Spätentwickler und sexuell unsicher, Olivia die erste Frau, mit der er geschlafen hatte. Sobald sie sich aneinander gewöhnt hatten, war es auf diesem Gebiet sogar ganz gut gelaufen, fand er.
Dazu kam, dass seine Ängste hinsichtlich seiner latenten Neigung zum eigenen Geschlecht sich in den vergangenen dreieinhalb Jahren als unbegründet erwiesen hatten. Er hatte beobachtet, wie andere Männer im Lager sich gegenseitig befriedigten. Keiner hatte daran Anstoß genommen, denn alles, was half, die Hölle zu überstehen und am Leben zu bleiben, wurde akzeptiert.
Harry war klar, dass er sich nicht mehr drücken konnte. Er musste nach Hause zurückkehren und sich den Tatsachen stellen. Beim Mittagessen mit Sebastian erklärte er diesem,
er fühle sich körperlich stark genug für die Heimreise nach England.
»Prima, alter Junge. Anfang nächster Woche geht ein Schiff. Lass mich sehen, was ich tun kann, um dich an Bord zu kriegen. Je früher, desto besser, oder?«
Da Harry Sebastians Begeisterung darüber, wieder englischen Boden zu betreten, nicht teilte, ertränkte er seine Sorgen in Alkohol.
Nach dem Lunch beschloss Harry, die kurze Zeit, die ihm noch in Bangkok blieb, zu genießen. Ermutigt durch den Alkohol, holte er tief Luft und ging zur Rezeption, wo Lidia ihn mit einem Lächeln begrüßte.
»Ja, bitte, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Nun …« Harry räusperte sich. »Ich würde gern noch etwas von der Stadt sehen, bevor ich nach England fahre. Da Sie jetzt für die Gästebetreuung zuständig sind, habe ich mich gefragt, ob es in Ihren Aufgabenbereich fallen würde, mich bei einer Tour auf dem Fluss zu begleiten.«
»Entschuldigung, Harry«, antwortete Lidia verwirrt, »was heißt ›Aufgabenbereich‹?«
»Ich würde gern wissen, ob Sie meine Fremdenführerin spielen würden«, erklärte Harry.
»Ich … », Lidia zögerte, »… muss Madame fragen.«
»Madame steht direkt hinter dir. Was möchtest du fragen?«, sagte eine Stimme mit starkem französischem Akzent, und Giselle trat aus ihrem Büro.
Harry wiederholte seine Bitte. »Ich wäre sehr dankbar für einen Führer, der sich in der Stadt auskennt und … gut Englisch kann.«
Giselle überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete: »Hauptmann Crawford, ich denke, wir
Weitere Kostenlose Bücher