Orchideenhaus
entdeckte ein Gebäude, das die Bezeichnung »Palast« verdiente. Mit seinen im Thai-Stil umgedrehten V-förmigen goldenen Dächern, die mit im Sonnenlicht glänzenden riesigen Smaragden und Rubinen bedeckt zu sein schienen, kam es ihm vor wie aus einem der Bilderbücher seiner Kindheit.
»Hier wohnen unser König und unsere Königin. Wir haben jetzt neuen König, weil alter erschossen wurde.«
Harry musste laut lachen über Lidias Direktheit, die sicher eher mit ihrem Mangel an englischen Wörtern als mit ihrer Persönlichkeit zu tun hatte.
»Wollen Sie hineingehen, den Jadebuddha im wat anschauen? Er ist sehr schön und sehr berühmt. Viele Mönche kümmern sich darum.«
»Warum nicht. Darf ich fragen, was ein wat ist?«, erkundigte er sich amüsiert, als der Bootsmann zum Pier steuerte und den Kahn mit einem Seil daran festmachte.
»Ein Tempel«, erklärte Lidia, die leichtfüßig aus dem Kahn sprang und Harry heraushalf.
Die Gärten um den Palast und den Tempel mit dem Jadebuddha waren atemberaubend schön, voll bunter Farben und duftendem Jasmin.
Harry blieb vor einer Pflanze mit zarten weißen und rosafarbenen Blüten stehen. »Orchideen«, stellte er fest. »Die gab es auch um Changi, und seit meiner Ankunft in Bangkok sehe ich sie überall. In England kennt man sie kaum.«
»Hier sind sie wie Unkraut«, erklärte Lidia.
»Ach. Ich wünschte, wir hätten zu Hause solches Unkraut«, sagte Harry und beschloss, eine der Pflanzen für seine Mutter mit nach Hause zu nehmen.
Dann folgte er Lidia die Stufen zum Tempel hinauf und schlüpfte wie sie aus den Schuhen. Im Innern war es dunkel und kühl; vor dem herrlichen, überraschend kleinen Jadebuddha knieten betende Mönche in safranfarbenen Roben. Auch Lidia kniete nieder und faltete, den Kopf gesenkt, die Hände zum Gebet. Harry tat es ihr gleich.
Er genoss die Ruhe und Stille des Tempels. In Changi hatte er einigen Vorträgen über Religion gelauscht. In einem war es um den Buddhismus gegangen. Er erinnerte sich, dass er gedacht hatte, dessen Grundüberzeugungen kämen seinen
eigenen Gefühlen und Gedanken über die Welt näher als die anderer Glaubensgemeinschaften.
Nach einer Weile verließen sie den Tempel und traten hinaus ins helle Licht der Sonne.
»Wollen Sie jetzt zum schwimmenden Markt?«, fragte Lidia, als sie wieder an Bord gingen. »Es ist eine lange Fahrt, aber ich glaube, es gefällt Ihnen.«
»Ganz wie Sie meinen«, antwortete Harry.
»Okay.« Lidia instruierte den Bootsmann in schnellem Thai, und dann machten sie sich auf den Weg. Harry lehnte sich im Heck zurück und beobachtete, wie Bangkok an ihm vorüberglitt. Trotz der leichten Brise vom Fluss war es ein sehr heißer Tag, und er wünschte, er hätte einen Hut dabei gehabt, um seinen Kopf zu schützen.
Wenig später bog der Bootsmann in einen schmalen klong ein und lenkte den Kahn durch den belebten Kanal. Als sie den schwimmenden Markt erreichten, hielten sie inmitten von Holzbooten mit Waren und Händlern, die sich durch Rufe mit ihren Kunden verständigten.
Was für ein Anblick! Farbenprächtige Seidenstoffe, gemahlene Gewürze in Jutesäcken, der Geruch von Hühnchen, die an Spießen brieten, und dazu der Duft frisch geschnittener Blumen – alles verband sich zur exotischen Atmosphäre dieses Ortes.
»Sie wollen etwas essen, Harry?«, fragte Lidia.
»Ja«, antwortete Harry, obwohl ihm, vielleicht von der Sonne, schwindlig war. Lidia rief einem Bootsmann, der Hühnchen am Spieß verkaufte, etwas zu. Harry schloss die Augen. Schweiß trat auf seine Stirn, und das Dröhnen in seinen Ohren wurde unerträglich. Die hohen lauten Stimmen, die intensiven Gerüche und die Hitze … Gütiger Himmel, die Hitze! … Er brauchte unbedingt etwas zu trinken …
»Harry … Harry, wachen Sie auf.«
Als er die Augen aufschlug, sah er, dass Lidia seine Stirn mit einem Tuch kühlte.
Sie befanden sich in einem abgedunkelten Raum; er lag auf einer schmalen Pritsche am Boden. »Wo bin ich?«, fragte er. »Was ist passiert?«
»Sie fallen im Boot in Ohnmacht und schlagen sich Kopf an Holz an. Sind Sie okay?«, erkundigte sich Lidia besorgt.
»Aha. Entschuldigung.« Er versuchte, sich aufzusetzen. »Könnte ich etwas zu trinken haben?« Seine trockene Kehle und der brennende Durst brachten die düsteren Erinnerungen an Changi zurück.
Lidia reichte ihm eine Flasche, aus der er gierig trank.
»Wir bringen Sie in Krankenhaus, ja?«, schlug Lidia vor. »Ihnen geht es nicht gut.«
»Nein,
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