Orchideenhaus
fügte Venetia hinzu. »Wie kannst du dir ohne das so sicher sein?«
Olivia wusste sehr wohl, dass Venetia »den letzten Schritt« bereits getan hatte. Nicht nur einmal und anscheinend, ohne sich allzu viele Gedanken zu machen. In dieser Hinsicht unterschieden sich ihre Ansichten deutlich. Venetias Einstellung, ihr Körper gehöre ihr und sie könne damit ohne schlechtes Gewissen machen, was sie wolle, teilte Olivia nicht. Sie wollte Jungfrau bleiben, bis sie den Mann heiratete, den sie liebte.
» Mir ist das nicht wichtig«, erwiderte Olivia mit leiser Stimme. »Ich finde es zweitrangig.«
»Mein Gott, Olivia! Ich dachte, mir wäre es in den vergangenen Monaten gelungen, dir die Grundlagen des Feminismus nahezubringen. Und nun träumst du schon von der Hochzeit. Versuch mir nicht weiszumachen …«, der Wagen näherte sich gefährlich der Straßenmitte, als Venetia ihr spielerisch mit dem Finger drohte, »… dass du das nicht tust, denn ich sehe es dir an der Nasenspitze an.«
Nach zwei Wochen auf Wolke sieben, in denen die Saison sich ihrem Ende zuneigte und alle von London in das wärmere
Klima der Riviera flohen, hatte Olivia noch immer nichts von Harry gehört.
Auf die Euphorie folgten Unsicherheit und Schmerz. Olivia versank in Schwermut und begann zu glauben, dass Venetias Einschätzung der Lage möglicherweise doch richtig gewesen war: Vermutlich hatte Harry dieser Kuss nichts weiter bedeutet als den netten Abschluss eines Abends.
Olivia war mit Venetia eingeladen, einen Monat in einer Villa in St. Raphael zu verbringen, die den Eltern von Angus, dem schottischen Laird, gehörte. Angus mochte Olivia sehr und hatte seine Absichten klargemacht. Ein Besuch bei seiner Familie kam also einer Erwiderung seiner Gefühle gleich.
»Ich fahre auf jeden Fall hin, egal ob du mitkommst oder nicht«, verkündete Venetia. »Die Atmosphäre hier ist deprimierend. Pup arbeitet immerzu im Atelier, und Mup schmollt, weil Pup sich weigert, Besucher zu empfangen. Ganz zu schweigen davon, dass ich, wenn ich das Haus durch die Hintertür verlasse, über einen hässlichen Luftschutzbunker stolpere, der unseren schönen Garten verunziert.«
Venetia und Olivia waren gerade vom Dudley House in der Park Lane, wo sie den Ball von Kick Kennedy besucht hatten, zum Ritz unterwegs.
»Es ist einfach nicht fair, Venetia«, widersprach Olivia. »Angus ist wirklich ein netter Kerl, aber ich möchte nicht, dass er meint, ich erwidere seine Gefühle.«
»Darling, im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Außerdem liegt es in der Natur der Sache, dass hübsche Mädchen ein paar Jungs das Herz brechen. Die Villa von Angus soll phantastisch sein. Was willst du sonst machen, wenn du nicht mitfährst? Den ganzen Sommer über deinem Angebeteten nachtrauern und darauf warten, dass die Deutschen ihre Bomben abwerfen?« Sie bogen von der Hauptstraße ab,
um das Ritz durch einen Seiteneingang zu betreten. »Reiß dich zusammen und gönn dir ein bisschen Spaß, solange du kannst.«
Als Venetia die Stufen zum Ritz betrat, sah Olivia eine vertraute Gestalt aus einer Tür kommen, hastig die Straße hinunter- und von ihr weggehen. Sie packte Venetia an der Schulter.
»Ich glaube, das war er.«
»Wer?«
»Harry natürlich.«
Venetia blieb seufzend am oberen Ende der Treppe stehen. »Olivia, meine Liebe, jetzt scheinst du wirklich komplett den Verstand zu verlieren. Was sollte Harry nach London verschlagen? «
»Ich bin sicher, dass er es war«, beharrte Olivia.
Venetia ergriff ihren Arm. »Offenbar hast du bei Kicks Ball zu viele Martinis getrunken. Hör auf mit deiner Tagträumerei. Das wird allmählich langweilig.«
Als Olivia nach drei weiteren Tagen der Qual aus unruhigem Schlaf erwachte, wurde ihr klar, dass Venetia mit ziemlicher Sicherheit recht hatte. Sie würde Angus’ Einladung nach Frankreich annehmen und ihre Wunden lecken. Dort wäre es wenigstens warm, anders als in Surrey, die einzige Alternative, die sich ihr sonst bot.
Gerade als sie sich auf den Weg zu Venetia machen und Vorbereitungen für ihre Reise nach Frankreich treffen wollte, klingelte das Telefon.
»Vermittlung. Sie haben einen Anruf von Cromer 6521. Darf ich durchstellen?«
»Ja, danke. Hallo, Olivia Drew-Norris am Apparat?«
»Olivia, Adrienne Crawford hier, von Wharton Park.«
»Adrienne, wie schön, von Ihnen zu hören. Ist alles in Ordnung? «
»Alles bestens. Abgesehen davon, dass ich mich ein wenig einsam fühle und fragen wollte, ob Sie im
Weitere Kostenlose Bücher