Orchideenstaub
geblieben war. Sam musste schmunzeln, als er an ihren Test von gestern Abend dachte und er in weiser Voraussicht vorbereitete gewesen war. Natürlich war er von ihr durchschaut worden, aber trotzdem verloren sie kein Wort mehr darüber. Und je später der Abend geworden war, desto mehr war sie von ihm angetan und hatte ihren Blick nicht mehr von ihm abwenden können. Er musste sich eingestehen, dass er froh war, sie nicht näher kennengelernt zu haben. Jetzt, da sie im Krankenhaus lag und wahrscheinlich laut Rafael den morgigen Tag nicht mehr erleben würde.
Sam trat vor die Tür seines Gästehauses, die Luft war etwas kühler geworden, trotzdem war es immer noch warm. Medellin, die Stadt des ewigen Frühlings hieß es in den Reiseführern. Das ganze Jahr über fielen die Temperaturen nicht unter dreiundzwanzig Grad und stiegen nicht über dreißig. Sein Handy vibrierte in seiner Tasche. Ohne genaues Ziel ging er durch den hinteren wild bewachsenen Garten und hörte Juri zu.
„Okay, also San Vicente ist eine der besten Kliniken Medellins, berühmt wurde sie durch ihre erfolgreichen Transplantationen“, sagte Juri.
Natürlich, wie hatte er das vergessen können. Lina war damals als junges Mädchen in die Heimatstadt ihres Vaters gekommen und war hier operiert worden. Sie hatte das Herz ihres Vaters bekommen. Eine schaurige Geschichte und Sam überlief eine Gänsehaut.
„Die Familie ist zurzeit am Debattieren mit einem Arzt. Sie bestehen auf eine Verlegung Leas in Rafaels Heim. Kannst du dir das vorstellen?“
„Ist sie nicht auf der Intensivstation? Ich dachte, sie würde die Nacht nicht überleben?“
„Anscheinend ist ihr Zustand stabiler, weshalb ihr Bruder darauf besteht, sie zu sich zu holen. Dort hätte er Tag und Nacht Kontrolle über ihren Zustand.“
War das Bruderliebe oder spielte etwas anderes dabei eine Rolle? Sam war sich nicht sicher, was er von dem Ganzen halten sollte. Hatte er damals nicht auch seine Schwester Lily nach Hamburg geholt, trotz ihres psychotischen Zustandes. Hätte er sie damals in der Münchner Klinik gelassen, wäre sie vielleicht heute noch am Leben. Beging Rafael vielleicht auch den gleichen Fehler? Sam war gar nicht wohl bei dem Gedanken.
„Okay sieht so aus, als hätten sie den Arzt überzeugt.“
„Sag mal, bist du vor der Klinik?“
„Nein ich sitze an der Bar im Hotel und führe eine Beinah-Konferenzschaltung mit Juan Carlos und dir.“
„Du sitzt an der Bar?“
„Bedenke bitte, ich bin im Urlaub, Sam.“
Sam lachte. Es gab für heute nichts mehr zu tun, er würde seinem Partner Gesellschaft leisten, der seinem Namen als Weiberheld mal wieder alle Ehren machte und von seinem Barhocker aus mit drei Kolumbianerinnen an unterschiedlichen Tischen gleichzeitig flirtete.
54.
Drei Tage waren vergangen ohne nennenswerte Vorkommnisse. Sam hatte sich in den letzten Tagen das Personal des Heimes aus der Nähe angesehen. Außerdem bemerkte er dabei, dass Rafael ihm beim ersten Mal nicht einmal annähernd die ganze Institution gezeigt hatte.
Es gab hier nicht nur Aidskranke, wie er feststellen musste, sondern der größte Teil waren nicht nur leicht, sondern schwerst behinderte Menschen, die auf ständige Pflege angewiesen waren.
Spätestens jetzt hätte er Thiels falsche Identität aufgedeckt. Inzwischen war ihm nämlich auch das Schild vor dem Eingang des Heimes aufgefallen, das von ein paar Ästen verdeckt an einer Stange hing und auf dem stand: „ Hogar del Desvalido “ – Heim des Verlassenen, Mittellosen oder Schutzlosen war die Übersetzung dafür. Thiel musste also irgendwann sein Heim hier nach Medellin verlegt haben. Damals hieß es noch „ Casa del Desvalido “. Doch er war sich sicher, dass das nicht alles war, was man hier noch aufdecken konnte. Zumal Thiel nicht der Typ von Mensch war, der ein Herz für Schwächere hatte. Das zeigte allein sein Verhalten gegenüber seiner geistig behinderten Tochter Maria. Hinter dieser Maske des Samariters musste irgendetwas anderes verborgen sein.
Sam hatte sich mit dem routinierten Ablauf im Heim vertraut gemacht und dabei festgestellt, dass Blutproben von Patienten im Schwesternzimmer im Kühlschrank aufbewahrt und später am Nachmittag von einem Kurier abgeholt wurden. Für jeden also zugänglich. Zwischendurch schaute er immer mal wieder bei Lea vorbei. Jedes Mal war das gleiche schnarrende Geräusch der Maschine zu hören, die die Atmung für Lea übernommen hatte und es war die
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