Orchideenstaub
Vielleicht lag es an seinen schönen dunklen Augen. Zwar zierte sie sich anfangs noch ein wenig, doch dann redete sie sich alles von der Seele. Sie erzählte von den mysteriösen Todesfällen im Heim, nach denen Lea sie ausgefragt hatte und von Leas unerlaubtem Besuch im Aktenraum, in dem sie etwas Wichtiges entdeckt haben musste.
„Ich sollte sie sofort anrufen, wenn mal wieder jemand von heute auf morgen stirbt“, sagte sie und setzte eine geheimnisvolle Miene auf.
„Können Sie mir das genauer erklären?“
Nathalia hatte Sams ganze Aufmerksamkeit und das gefiel ihr. Sie erklärte ihm im Flüsterton, dass es nichts Ungewöhnliches wäre, wenn ein Aidspatient plötzlich starb, aber wenn ein körperlich gesunder Mensch aus heiterem Himmel ablebte, gäbe einem das schon zu Denken. Dabei sah sie sich unruhig um, als hätte sie Angst, dass doch noch jemand anderes ihre Aussage mitgehörte.
Sam musste die Informationen, die er gerade bekommen hatte, erst einmal verdauen. Unvermittelt sah Nathalia auf die Uhr und sprang hektisch auf. „Dios mio, ich komme zu spät zur Nachtschicht.“ Sie gab ihm die Hand und lief schnellen Schrittes zur Hauptstraße, bevor er noch weitere Fragen stellen konnte.
Das Heim existierte hauptsächlich von großzügigen Spenden, wie Rafael ihm erklärt hatte. Konnte es sein, dass Rafael sich ab und zu ein paar leidiger Patienten entledigte, damit mehr in der Kasse blieb? Patienten ohne Angehörige, die nicht weiter auffielen? Nicht umsonst hieß es ja „Heim des Verlassenen“.
55.
Sam beobachtete Heinrich Thiel, der in seinem Rollstuhl saß und im Wohnzimmer vor sich hindöste.
Seine Frau Aurelia war mit Maria und dem Chauffeur unterwegs, weshalb Sam die Gelegenheit nutzen wollte, das Gespräch mit dem alten Mann hier und jetzt ungestört weiterzuführen. Er sah aus dem Fenster und nahm ein Schluck heißen Kaffee, der, wie er feststellte, längst nicht der deutschen Qualität entsprach. Das musste wohl daran liegen, dass die Qualitätsbohnen exportiert wurden. Das Grundstück der Finka war in alle Windrichtungen sehr weitläufig und endete teilweise erst hinter riesigen Bambuswäldern. Wo er auch hinsah war eine unermessliche Blumenpracht zu erkennen. Ein Kolibri tauchte direkt vor ihm auf und steckte seinen Schnabel in den Trichter einer Blüte, die vor dem Fenster wuchs.
Sam wollte sich gerade zu Heinrich Thiel umdrehen, der sich vernehmlich geräuspert hatte, als er in einem der vielen Blumenbeete die rosa-weißen Blüten der Miltonia-Orchidee entdeckte.
„Ist meine Frau nicht da?“, ertönte Thiels krächzende Stimme.
„Sie ist einkaufen gefahren. Eine gute Gelegenheit unser Gespräch fortzuführen, Herr Thiel.“
„So, was wollen Sie denn noch wissen. Ich habe doch bereits alles gesagt.“
„Wir waren bei Steiner und Rewe stehen geblieben.“
„Ach ja? Ich erinnere mich gar nicht mehr daran.“
„Dann helfe ich Ihnen mal auf die Sprünge. Das Wappen dürfte Ihnen ja bekannt sein“, konstatierte Sam und hielt Thiel die erste Seite aus dem Buch vor die Nase, auf dem der Faun und der Engel abgebildet waren.
Thiels Augen weiteten sich, sofern die schweren hängenden Lider es zuließen, und griff nach dem Buch. Sam zog es wieder weg und fing an darin herumzublättern. Dabei setzte er eine viel wissende Miene auf.
„Wo haben Sie das her?“
Sam bemerkte sofort das leichte Zittern in der Stimme des Alten.
„Harry Steiner, der Sohn Ihres ehemaligen Arztkollegen hat es mir überlassen, nachdem er sich in seinem Büro erhängt hatte. Er war verliebt über beide Ohren, nur leider hat man seiner Geliebten die Haut in einem Hotelzimmer abgezogen. Üble Geschichte. Ich denke, von Zufall kann hier aber keineswegs die Rede sein. Was meinen Sie, Herr Thiel?“
„Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?“
Sam klappte das Buch laut zu und schenkte Thiel ein Glas Wasser ein, das auf dem Tisch zwischen ihnen neben einem Krug stand.
„Auch, dass man der Frau von Rewe Junior, die Wirbelsäule Stück für Stück zerteilt hat, bis man ihr den vierten Wirbel durchtrennte, der schließlich zum Tod führte, ist wohl keinem Zufall zuzusprechen. Ach, und dann haben wir ja noch die Enkelin ihrer Kollegin Rosemarie Klein, der man eine tödliche Injektion direkt ins Herz gespritzt hat, was man übrigens auch bei den anderen beiden Opfern getan hat. Na? Kommt Ihnen das Prozedere irgendwie bekannt vor?“
Heinrich Thiel kämpfte sichtlich mit sich selbst.
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