Orchideenstaub
Sein Blick ging immer wieder zu dem Buch in Sams Hand zurück.
„Ich weiß nicht, was die Morde mit der Vergangenheit zu tun haben. Wir haben nichts Unrechtes getan“, beharrte er.
„Das sagten Sie bereits. Aber ich nehme es Ihnen so nicht ab. Versuchen Sie es noch einmal“, sagte Sam leicht gereizt, um dem alten Mann deutlich zu machen, dass er sein Drumherumgerede ziemlich satthatte.
Nach endlosen Minuten des Stillschweigens gab sich Heinrich Thiel einen Ruck und begann zu erzählen. „Wir hatten die Idee, den esoterischen Geheimbund, eine Art Neutempler Orden, der auf Jörg Lanz zurückgeht, weiter zu verbreiten. Wir wollten Idealstaaten in die unterentwickelten Teile der Welt bringen. Das Universum musste gerettet werden durch die Bildung einer neuen arischen Elite. Das war unsere Aufgabe. Der südamerikanische Kontinent eignete sich gut zur Umstrukturierung. Es sollte das Reich der Blonden werden. Wussten Sie, dass die Perser ursprünglich groß und blond waren? Erst als die niedere Rasse über die arisch heroische Herrenschicht Oberhand gewann, war das Reich dem Untergang geweiht. Sehen Sie doch, was heute in diesen Ländern los ist. Überall sind Proletarier an der Macht und verbreiten das Böse. 1942 verbot die Gestapo leider Sekten und Gruppen, aber es gab immer noch die Anhänger des Ordens und die verteilten sich auf der ganzen Welt und ließen ihn neu aufleben. New York, London, Kalifornien, Argentinien und so weiter.“ Thiels Augen glänzten, während er in der Vergangenheit schwelgte.
„Weit scheinen Sie zum Glück nicht gekommen zu sein, sonst hätte ich davon gehört.“
„Nun ganz richtig ist das nicht. Wir haben überall unsere Spuren hinterlassen. In einigen Ländern Südamerikas, wie zum Beispiel in Brasilien, Chile und Paraguay gibt es heute noch Kolonien der großen blonden Menschen und sie halten daran fest, sich nicht mit den Untermenschen, den Tieren, zu vermischen. Es wurde sogar bewiesen, das es geistige Unterschiede zwischen blonden und dunklen Menschen gibt, wussten Sie das? Ganz deutlich können Sie das in meiner eigenen Familie erkennen. Die Missratenen sind alle dunklen Typs. Aber lassen Sie Ihren Blick schweifen. Sie brauchen nicht einmal weit zu gehen, nur hier vor die Tür, da treffen Sie auf kolossale Dummheit. Jedes Schwein im Stall ist schlauer, weil es weiß, was der andere frisst, scheißt und wer der Stärkere ist.“
„Also um Sie mal zu unterbrechen … wie wollten Sie denn Ihre Idee in einem Land voller Indianer und dunkelhäutiger Menschen realisieren?“
„Na durch Kastration der Minderwertigen, durch Geburtenkontrolle und Geburtenerhöhung beziehungsweise Geburtenbeschleunigung der eigenen Rasse.“
„Mengele …“, sagte Sam leise.
„Ja, er war einer von uns. Er hat es geschafft, die Rate unserer Rasse durch Zwillingsgeburten zu erhöhen. In Brasilien, in einem kleinen Dorf konnte er weiter experimentieren. Bis heute ist dort die Ziffer an Zwillingsgeburten so hoch wie alle Zwillingsgeburten auf der Welt zusammen“, bemerkte Thiel stolz, als wäre es sein eigener Verdienst.
„Und was war Ihr Beitrag zu dem Ganzen?“
„Wir haben versucht, die Tragezeit von neun Monaten auf die Hälfte zu reduzieren.“
„Sie haben WAS? Und diese Experimente haben Sie an Menschen gemacht?“
„Nur an Freiwilligen, das versteht sich ja von selbst.“
Sam massierte sich den Nacken. Nach den Schilderungen von Heinrich Thiel war er ganz steif geworden. Ihm fiel das letzte Gedicht ein, das bei Leilas Leiche gelegen hatte und in dem, wie sie vermutet hatten, von einer Schwangerschaft und von einer Abtreibung gesprochen wurde. Das Bild hatte sich verändert … doch war es zu früh, ergreift es den Tod … Der Zeiten Gesetz verändert man nicht … Verkürzt und verändert es Leben zerbricht … Der Mörder musste von Thiels Experimenten an schwangeren Frauen gewusst haben, denn genau darauf zielten seine Zeilen ab.
„Bei der letzten Frau, die Ihr Sohn Rafael übrigens heimlich, ohne Sie davon in Kenntnis zu setzen, geheiratet hat, damit ihr nicht das gleiche Schicksal widerfährt wie den anderen, wurde der Fötus aus dem Leib gerissen und in den Mülleimer geschmissen.“
Heinrich Thiel starrte Sam an. Fast sah es aus, als hätte er aufgehört zu atmen. „Rafael hat heimlich geheiratet?“ Der alte Mann sagte nichts mehr und blickte nur stumm auf den Boden.
Sam betrachtete den zerbrechlich wirkenden alten Mann vor sich, der in Wirklichkeit ein kaltblütiger
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