Orchideenstaub
Geschäft ist Geschäft, das wirst du hoffentlich verstehen.“ Er beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie auf die Stirn und verließ leise das Zimmer.
59.
Nachdem sie den seltsamen Monolog von Rafael mit angehört hatten, waren Sam und Juri sofort über die drei Meter hohe hintere Mauer des Heimes geklettert, wo sie von Juan Carlos erwartet, und zurück ins Hotel chauffiert wurden. Die Krone der Mauer war mit Glasscherben gespickt gewesen und sowohl Sam als auch Juri hatten sich nicht nur die Hosen aufgerissen, sondern auch die Hände in der Eile an den scharfen Kanten aufgeschnitten.
Am frühen Morgen war er von Nelly abgeholt worden und nun saß er mit verbundenen Händen in einem Verhörraum der kolumbianischen Staatsanwaltschaft, der eher einer größeren Besenkammer glich. Grauer fleckiger Betonfußboden, unverputzte Wände und ein alter brauner Holzschreibtisch. Dahinter hing an der Wand das obligatorische Foto des aktuellen Präsidenten und von der Decke baumelte eine nackte Energiesparlampe.
Heinrich Thiel war von vier Beamten der Fiscalía unter lautem Protest von seiner Finka abgeholt worden und fuhr nun in seinem Rollstuhl in den Raum. „Ihnen hab ich das also alles zu verdanken. Sie haben doch nichts in der Hand gegen mich. Tonbänder zählen vor Gericht nicht“, giftete der alte Mann Sam an.
Zwei kolumbianische und drei deutsch aussehende Beamte betraten den Raum und setzten sich auf die weißen Plastikstühle, die zur Verfügung standen.
„Mein Name ist Hugo Spatz. Meine Kollegen von der deutschen Botschaft“, stellte sich einer der Männer vor. „Ich wurde von Interpol beauftragt, mir Ihren Fall und die Beweislage anzusehen.“
„Das ist doch lächerlich.“ Heinrich Thiel war so aufgebracht, dass er das Zittern seiner Hände kaum kontrollieren konnte.
Hugo Spatz sah Sam an und forderte ihn auf, seinen Bericht abzuliefern. Brenner hatte Sam in der Nacht angerufen und darüber informiert, dass die Deutschen an Thiel interessiert waren. Sam stellte das kleine Aufnahmegerät auf den Tisch und spielte es ab. Als es zu Ende war, öffnete er seine Tasche und legte nacheinander die Bücher aus dem Schrank auf den Tisch.
„Was ist das?“, fragte Spatz.
„Aufzeichnungen von fragwürdigen Experimenten, die Herr Thiel mit seinem Ärzteteam an unschuldigen Menschen ausgeführt hat“, erklärte Sam emotionslos, obwohl es ihn innerlich schier zerriss.
„Das ist eine infame Unterstellung. Das habe ich nicht geschrieben“, schrie Thiel und stemmte sich aus seinem Rollstuhl hoch. Er schien für einen Moment in der Luft zu schweben, bevor er auf den Boden klatschte.
Die Kolumbianer sprangen gleich auf, um dem alten Mann zurück in den Stuhl zu helfen, während Sam und Hugo Spatz dem Treiben ungerührt zusahen. Als Thiel wieder in seinem Stuhl saß, hielt er sich das Handgelenk, das wie ein gebrochener Ast nach unten baumelte.
„Sie leugnen also, dass das ihre Handschrift ist, Herr Thiel?“, fragte Spatz und nahm das erste Buch vom Stapel, öffnete es und begann laut daraus vorzulesen. „ Es sind keine Narkosemittel vorhanden. Zu teuer. Wir haben uns entschieden, Operationen auch ohne durchzuführen. Wir schneiden den Patienten die Stimmbänder durch, damit wir in Ruhe arbeiten können. Bei der ersten Patientin wird durch einen Kaiserschnitt der sechzehn Wochen alte Fötus entnommen. Er ist nicht lebensfähig. Sie wird ausgespült und wieder zugenäht. Nach acht Stunden verstorben. Entsorgt. Zweite Patientin: Der Fötus ist siebzehn Wochen alt, nach der Durchtrennung der Nabelschnur, hört das Herz nach dreißig Sekunden auf zu schlagen. Dritte Patientin: Fötus achtzehn Wochen alt. Totgeburt. Ich bin sicher, es ist möglich, sie am Leben zu erhalten. Das wäre ein großer Fortschritt. Aber wir sind noch weit entfernt, viele reinrassige Germanen hervorzubringen. Vierte Patientin: Fötus achtzehn Wochen alt, wir erhalten ihn für fünf Stunden am Leben. Künstliche Beatmung, Ernährung durch eine Sonde … Spatz warf einen Blick zu seinen Kollegen und griff zum nächsten Buch mit der Jahreszahl 1970-75. Er blätterte es durch, dabei überflog er nur ansatzweise die Berichte. Bei einem hielt er inne und las laut vor: „ Die Idee ist, Querschnittgelähmte wieder bewegungsfähig zu machen. Dr. Rewe hat die Vorstellung, dass Nerven und Sehnen künstlich wieder zusammengefügt werden können. Dafür wird einem Patienten die Wirbelsäule freigelegt und durchtrennt. Teile eines
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