Orchideenstaub
Schweines sollen die entfernten Wirbel ersetzen …“
Thiels Gesichtszüge entgleisten plötzlich, er griff sich ans Herz und klappte in seinem Stuhl zusammen.
60.
Kaum war Sam aus dem kleinen Kabuff bei der Fiscalía raus, rief er Nathalia an. Sam erklärte ihr nur das Nötigste und war froh, als sie nicht weiter nachhakte, sondern ohne Weiteres ihre Hilfe anbot. Er verabredete sich mit ihr gegen acht Uhr abends auf einem unbewohnten Grundstück hinter dem Heim.
Die Amerikanerin Elisabeth Lincoln hatte bereits am Abend zuvor ausgecheckt, befand sich aber, nach einer Überprüfung der Einreisebehörde, noch immer im Land.
Judith Weinmann war am frühen Nachmittag von Rafael abgeholt worden und mit ihm ins Heim gefahren. Niemand hatte nach seinem überraschenden Aufbruch von der Finka nach Sam gefragt, zumindest nahm er das an. Rafael schien wohl zu glauben, dass er nicht mehr als Verdächtiger in Betracht kam und Sam abgereist war. Oder hatte er Nachforschungen angestellt und wusste, dass Sam im Hotel abgestiegen war? Wie dem auch war, Rafael fühlte sich anscheinend sicher in seiner Stadt, wo das Gesetz des Reicheren und Stärkeren galt wie im Mittelalter.
Immer wieder dachte Sam an die letzten Worte von Rafael an Leas Bett. Geschäft ist Geschäft … Hatte Lea ein Geschäft vereiteln wollen und deshalb dran glauben müssen? Auf seinem Schoß lag eines der Bücher, die er behalten hatte. Der dünne Buchdeckel war übersät von undefinierbaren Flecken, die Ecken sahen aus wie kleine Fächer und es gab viele lose Blätter, die sich aus dem Buchblock lösten. Zum Glück hatte Thiel alles fein säuberlich auf Deutsch niedergeschrieben und so war alles, bis auf einige Fachbegriffe, gut verständlich. Wahrscheinlich hatte er gedacht, dass nie einer der Kolumbianer auf die Idee kommen würde, sich der Bücher anzunehmen, gerade weil sie in einer anderen Sprache abgefasst waren. Und da war er wieder bei einem Punkt angekommen, wo er nicht weiterkam. Wer war dieser geheimnisvolle Unbekannte, der der deutschen Sprache mächtig war, der mit einem gestohlenen deutschen Pass nach Deutschland gereist war, dort ein paar Morde verübt hatte, um die Spur auf eine Gruppe alter Nazis zu lenken und zuguterletzt die Bücher bei Sam in den Schrank gelegt hatte? Eines war sicher, Thiel hatte sie mit Sicherheit nicht dort im Schrank vergessen.
Laut der Aufzeichnungen experimentierte Thiel noch in den achtziger Jahren herum. Die Bücher wird er im Büro gehabt und dort auch irgendwann entsorgt haben. Vor fünfzehn Jahren ungefähr rechnete Sam zurück, bevor er vom Blitz getroffen worden war und sich aus dem Heim und seiner „karitativen“ Arbeit zurückzog. Seitdem mussten die Bücher im Besitz von jemand anderem gewesen sein. Und dieser jemand hatte auch ein besonderes Interesse an Rafael und seinen schwangeren Frauen gehabt. Nur warum? Das war genau die Frage, die er sich schon die ganze Zeit stellte.
Sam griff zu seinem Kaffeebecher und als er den ersten Schluck daraus nahm, kam ihm plötzlich die Antwort dafür in den Sinn. Der heutige Tag hatte die Antwort geliefert. Sam wurde heiß und kalt zugleich. Wie konnte er das übersehen? Thiel hatte ihm schon bei dem ersten Gespräch einen Hinweis darauf gegeben. Der alte Sam O´Connor mit seinem Feingespür und seiner außergewöhnlichen Intuition war wieder da. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das war makaber, dachte er. Diese verdammte Vorhersage von Lina machte ihn noch wahnsinnig. Sie schoss ihm zu den unmöglichsten Zeitpunkten durch den Kopf und holte ihn auf den Teppich zurück. Sein Tod. Er fegte den Gedanken aus seinem Kopf und blätterte die ersten Seiten durch, arbeitete sich zügig zur Mitte vor und überflog die Zeilen mit der krakeligen alten Handschrift. Hatte er richtig gelesen? Er ging noch einmal zum Seitenanfang. Das war doch nicht möglich.
Sam sah aus dem Fenster. Geschäft ist Geschäft … Rafael war in die Fußstapfen seines Vaters getreten und … Judith Weinmann war ein Teil davon. „Judith Weinmann.“ Sam sprach den Namen laut aus. Er war gerade dabei, in ein Hornissennest zu stechen, und zwar ohne Schutzanzug. Das konnte ja nicht gut gehen.
Es klopfte an der Tür. Sam legte das Buch zur Seite und öffnete.
„Erzähl, was hast du entdeckt“, überfiel ihn Juri ohne Umschweife.
„Wie kommst du darauf?“, entgegnete Sam gelangweilt.
„Ich sehe es dir an. Ich kenn dich inzwischen schon ganz gut. Schieß los, du schlechter
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