Orchideenstaub
musste Lea noch ein Geheimnis anvertrauen, das nur sie und ihre eigene Schwester kannten. Ein schreckliches Geheimnis, das wie ein Schatten über den Rodriguez’ lag. Es wurde Zeit, es ans Licht zu bringen. Wieder durchbohrte sie der Schmerz und nahm ihr die Kraft zum Reden.
Lea weinte jetzt hemmungslos. Sie versuchte sie zu trösten, aber dazu fehlte ihr einfach die Kraft. Schritte näherten sich ihrem Bett und eine Schwester sagte, dass es Zeit wäre zu gehen. Ihr Inneres wollte sich aufbäumen, wollte sagen Nein, warte, da gibt es etwas, was du wissen musst. Aber sie konnte nicht, der Schmerz drückte sie zurück und brachte sie zum Schweigen.
In der Nacht machte Aleida Betancourt ihren letzten Atemzug und nahm das schreckliche Geheimnis der Familie Rodriguez mit ins Grab. Ein Geheimnis, das selbst der Familie nicht bekannt war und das sie so viele Jahre in ihrem Herzen getragen hatte. Nach siebenundzwanzig Jahren würde es sich nun allein auf verschlungenen Wegen aus der Dunkelheit befreien müssen.
11.
PARIS Katarin war im siebten Himmel. Sie hatte eine weißgoldene Chopard von Harry bekommen, auf der sie seit fünf Minuten die Zeiger beobachtete und nun überlegte, was sie bis zum frühen Abend anstellen sollte. Harry war zum Kongress gegangen und hatte ihr Geld auf den Tisch gelegt, damit sie sich verwöhnen lassen konnte. Vielleicht würde sie sich eine Massage und ein Facial-Treatment gönnen. Katarin streckte ihr Bein in die Höhe und betrachtete ihre Fußnägel. Ihre Nägel könnte sie sich auch lackieren lassen. Gerade wollte sie nach dem Hörer greifen, um im Spa anzurufen, als es klopfte und die Tür aufging.
Ein Reinigungswagen wurde hereingeschoben.
Katarin wollte protestieren, doch das Zimmermädchen war schon im Bad verschwunden. Außerdem sprach sie kein französisch. Was soll’s, dachte sie und rief im Spa an. „Hallo, ich hätte gerne einen Termin für eine Massage gemacht … Erst morgen wieder?“ Sie legte enttäuscht auf und sah um die Ecke ins Wohnzimmer. Der Wagen stand direkt vor der Tür, von dem Zimmermädchen war nichts zu sehen. Nur ein Klappern und Scheppern kam aus dem Badezimmer. Das Bad war doch heute Morgen sauber gemacht worden, wunderte sich Katarin.
Sie legte sich wieder aufs Bett. Was sollte sie nur den ganzen Tag machen? Sie schaltete den Fernseher an und zappte durch die Kanäle, als plötzlich jemand neben ihrem Bett stand. Katarin starrte auf die merkwürdig aussehende Gestalt, die auf sie herabsah. Die Uniform saß nicht und dann das Gesicht …
„Bonjour Madame“, sagte das Zimmermädchen und stellte ihren Lederkoffer auf den Nachttisch.
12.
HAMBURG Sam hatte den Tag einmal anders begonnen als üblich. Er war früh morgens in den hoteleigenen Pool des Olympus Spa gesprungen und war dreißig Bahnen in dem zwanzig Meter langen Becken geschwommen. Die erste sportliche Tätigkeit seit Monaten. Seine Kondition hatte stark nachgelassen, und er war sich im klaren darüber, dass er mehr Aufwand betreiben musste als mit zwanzig, um wieder in Form zu kommen. Als er nach der letzten Bahn auftauchte und die Schwimmbrille abnahm, hockte Juri auf der Treppe zum Whirlpool und lächelte ihn frech an. „Sind die Gläser verstärkt?“
Sam schwang sich aus dem Wasser, griff nach seinem Handtuch und ließ es gegen Juris Bein fatzen, der sofort spielerisch aufschrie.
„Na, bist du mal wieder von einem One-Night-Stand geflohen?“, konterte Sam.
„Du hast es erraten. Dachte wir frühstücken zusammen“
„Bin gleich fertig. Warte im Restaurant auf mich.“
Sam schlüpfte in einen Bademantel und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben zu seinem Zimmer. Sein Partner war genauso allein und einsam wie er, dachte Sam, sonst würde er seinen morgendlichen Kakao nicht mit mir trinken wollen. Er war überzeugt davon, dass auch bei Juri irgendwo die Sehnsucht nach Wärme, Zugehörigkeit und Liebe schlummerte, die aber von Beziehungsunfähigkeit und Angst vor einer lebenslangen Verantwortung übertüncht wurde, wie von einem dicken schwarzen Pinselstrich. Aus diesem Grund begnügte sich Juri mit flüchtigen Bekanntschaften und Sam, wenn überhaupt, mit kurzen Liebschaften, die irgendwann im Sand verliefen oder wie bei Lina mit dem Tod endeten. Vielleicht wäre seine Beziehung mit Lina über kurz oder lang genauso ausgegangen, wie bei vielen anderen Paaren, die er kannte. Zuerst kam das Glück, die Liebe und Kinder. Irgendwann fand man sich
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