Orchideenstaub
gesunken. Es war saukalt, und in Sam kamen der Wunsch und das dringende Bedürfnis hoch, nach langer Zeit mal wieder warme Sonnenstrahlen auf seiner Haut zu spüren und das Meer zu riechen.
Im Hotelzimmer angekommen legte er sich angezogen auf sein Bett und versuchte, seine Gedanken abzuschalten. Immer wieder ging ihm der Zweizeiler durch den Kopf. Dieser Schnipsel war das Einzige, was in dem ganzen Fall keinen Sinn machte und ihm wollte partout auch nichts dazu einfallen. Er nahm die Akte vom Nachttisch und schlug sie auf.
Jasmin Rewe war um 14.27 durch die Lobby zum Fahrstuhl gegangen. Um 14.40 hatte sie auf Nicki Hörners Mail-Box gesprochen. Das bedeutete, dass sie allein gewesen sein musste. Plötzlich kam in Sam das unbestimmte Gefühl hoch, dass sie einer völlig falschen Spur nachgingen. Er legte die Akte beiseite, drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Wilde springende Flecken in rot, gelb und braun tanzten vor seinen inneren Augen, sodass er sie wieder öffnete. Den Blick an die dunkle Zimmerdecke gerichtet, formte sich dort in leuchtend roten Buchstaben plötzlich ein Satz.
Sam machte die Augen wieder zu, wollte sich ablenken, indem er an Lina dachte. Aber mit ihr kam der Schmerz. Der Schmerz war wie ein wildes Tier, das in seinem Körper gefangen war und dort wütend herumtobte. Und es forderte die Freilassung. Seit zwei Wochen war er nun in psychiatrischer Behandlung. Er hatte die Hoffnung gehegt, durch Reden sich davon befreien zu können, aber der Schmerz war immer noch so tief, dass er manchmal kaum atmen konnte. Er war immer schon ein Meister der Verdrängung seiner Gefühle gewesen. Jede Verletzung seiner Seele hatte er weggesteckt oder tief im bodenlosen Abgrund seines Unterbewusstseins begraben. Jetzt quoll es hervor wie der Müll aus einem übervollen Container. Er hatte sich als Pfeiler gesehen, als Pfeiler für seine Schwester Lily, seine Umgebung, sogar für sich selbst. Nie hatte er sich Schwächen erlaubt und galt auch unter Kollegen als stabil, in sich ruhend und ausgeglichen. Linas Tod hatte ihm endgültig den Boden unter den Füßen weggerissen und ihm vor Augen gehalten, dass er eben nicht unfehlbar war. Er öffnete wieder die Augen und sah den Satz immer noch an der Decke stehen: Er tötet wieder.
Er stöpselte sich die Kopfhörer seines I-Pods in die Ohren und lauschte den ruhigen Klängen eines Klavierkonzerts von Chopin. Eine Weile betrachtete er das Foto von Lina, legte es auf seinen Bauch und nahm ihr Gesicht zehn Minuten später mit in seinen Traum.
10.
KOLUMBIEN Aleida Betancourt stöhnte laut auf. Die Schmerzen waren nicht auszuhalten und sie hoffte inständig, dass Gott sie bald erlösen würde. Sie war immer gesund gewesen, bis vor einer Woche, als die Schmerzen im Rücken unerträglich geworden waren. Nach einer eingehenden Untersuchung hatte man bei ihr einen apfelsinengroßen Tumor in der Lunge entdeckt und sie gleich zwei Tage später operiert. Seit gestern lag sie nun hier auf der Intensivstation und merkte, wie die Lebensgeister sich aus ihrem Körper verabschiedeten. Es ging zu Ende, das konnte sie auch an den Augen ihrer Besucherin Lea sehen, die jetzt neben ihr saß, sie anlächelte und dabei versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
Ihr ganzes Leben zog an ihr vorbei. Ein arbeitsreiches und gotterfülltes Leben, über das sie sich nie beschwert hatte. Sie war regelmäßig in die Messe gegangen, hatte ihre kleinen Sünden gebeichtet und dafür den Rosenkranz gebetet. Jetzt würde das Paradies auf sie warten.
Sie sah wieder zu Lea, die ihren Tränen nun freien Lauf ließ.
Diese Familie war ihr Leben gewesen. Sie hatte ihr über vierzig Jahre gedient. Sie kannte alle ihre Familiengeheimnisse und hatte nie ein Wort darüber verloren. Die meisten würden der ruhmvollen Familie das Genick brechen.
Im Alter von vierzehn Jahren hatte Diego Rodriguez sie von ihren Eltern abgekauft und als Hausmädchen in seinen Haushalt gesteckt.
Lea griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. Sie war ihr von den fünf Kindern, die sie hatte aufwachsen sehen, besonders ans Herz gewachsen. Die hübsche kleine Lea mit ihren aschblonden Haaren und grün-blauen, fast türkisfarbenen Augen. Sie war das Schmuckstück der Familie, der besondere Edelstein.
Ihre Lider fielen ihr zu und ein Schluchzen drang an ihre Ohren. Weine nicht, kleine Lea, dachte sie, es wird alles gut. Noch einmal versuchte sie, die schweren Lider zu öffnen. Sie wollte, nein,
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