Orphan 2 Juwel meines Herzens
Harrison wieder den Kopf und betrachtete das helle Rechteck auf dem Boden.
Wütend starrte Turner ihn an. Was für ein Spielchen trieb Bryden da mit ihm? Glaubte der Kerl tatsächlich, jemand nahm ihm seine Unschuldsbeteuerungen ab? Lächerlich! Dennoch trafen einige der Fragen, die Bryden ihm gestellt hatte, genau ins Schwarze. Seltsam, auch sein Gefühl sagte Turner, dass der Mann nicht log. Damit war selbstverständlich nichts bewiesen, aber der Inspector war sich seiner Sache zumindest nicht mehr ganz so sicher.
Er humpelte zur Tür, hielt dann aber noch einmal inne.
„Das hier gehört doch wohl Ihnen? “ Er zog ein Leinentaschentuch hervor.
Harrison schenkte dem Stück Stoff kaum einen flüchtigen Blick. „Bedauerlicherweise nein. “
„Und warum bedauerlicherweise? “
„Weil ich zum Zeitpunkt meiner Verhaftung kein Taschentuch bei mir trug und ich eines gebrauchen könnte. “ Spöttisch fuhr er fort. „Trotz Digbys größter Bemühungen um Sauberkeit und Ordnung könnte das Mobiliar hier einmal gründlich entstaubt werden. “
„Dann ist es in der Tat schade, dass ich Ihnen dieses nicht überreichen kann. Es wurde am Tag des Einbruchs und des Mordes an dem Butler auf Lord Pembrokes Grundstück entdeckt. Ich dachte nur, es könnte Ihres sein, weil der Buchstabe B hineingestickt ist. Würden Sie das Taschentuch vielleicht gern einmal näher betrachten? Möglicherweise ist es Ihnen ja doch heruntergefallen, als... “
»Es gehört mir nicht, Inspector. “
»Selbstverständlich. Übrigens erwartet Sie weiterer Be such. Miss Charlotte Kent. Sie sitzt unten in einem der Bü ros. “
Mühsam unterdrückte Harrison jede Regung. Der Inspector durfte keinesfalls ahnen, dass Charlotte ihn selbst gut kannte, sonst würde sie auch noch verdächtig.
»Miss Kent ist mir persönlich nahezu fremd. Sie mag zwar allgemein dafür bekannt sein, verlorene Seelen auf rechten Pfad zurückzuführen, dennoch halte ich New-gate kaum für den geeigneten Aufenthaltsort für junge Damen. Außerdem steht mir auch gerade nicht der Sinn nach frommen Predigten über Schuld und Sühne. Grüßen Sie Miss Kent bitte höflich von mir, und dann schicken Sie sie fort. “
Turner war ehrlich beeindruckt von Brydens Schauspielkunst. „Ich habe ihr bereits zu verstehen gegeben, dass Sie sie besser nicht besuchen sollte, weil die Leute sonst falsche Schlüsse daraus ziehen könnten und sie so ihren Ruf ruiniert. Wollen Sie ihre Antwort hören? “
Harrison seufzte scheinbar gelangweilt. „Nun, dass sie mich für den Schatten hält, beweist doch schon ihr Besuch. Zweifellos will sie meine schwarze Seele retten, bevor sie auf immer beim Teufel ist. Richten Sie ihr aus, dass ich ausgezeichnet allein zurechtkomme... “
„Sie erklärte mir, dass ihr Ruf bereits seit Jahren in Scherben liege, sie selbst schon einige Male im Gefängnis gesessen habe und nicht der Meinung sei, dass Newgate ihr noch etwas bieten könne, was sie nicht schon kenne“, unterbrach ihn Turner. „Sie war ausgesprochen bemüht, mir aufs Eindringlichste zu versichern, dass Sie keinesfalls zu gehen gedenkt, bevor sie Sie nicht gesehen hat. Übrigens hat Miss Kent mir vorausgesagt, dass Sie wahrscheinlich keinen Besuch von ihr wünschen. Daher soll ich Ihnen bestellen, dass sie zur Not auch die ganze Nacht hier warten wird. “
Als wären ihm diese alten Jungfern mit ihrem Wohltätigkeitsdrang wirklich entsetzlich lästig, verdrehte Harrison enerviert die Augen. „Nun gut, Inspector“, gab er dann nach, „schicken Sie die Dame herein. “
13. KAPITEL
Fast starr vor Angst saß Charlotte da und wartete, bis nach einer schieren Unendlichkeit der gebückte Digby erschien.
Volle zwei Stunden hatte sie nun schon in dem tristen Zimmer im Erdgeschoss von Newgate verbracht, während der Inspector bei Harrison weilte. Der kleine Raum diente Besuchern als Wartezimmer. Hier durfte man auf einem der beiden harten Stühle Platz nehmen und die Wände anstarren. Wurde man derer überdrüssig, gab es noch einen abgestoßenen Schreibtisch zu bestaunen, der mit Papieren übersät war, und ein Bord, das von den Porträts zweier bekannter Massenmörder geziert wurde.
Während aus Minuten so Stunden wurden, fühlte sich Charlotte immer hilfloser. Schließlich erschien Digby.
»Dann kommen Sie mal mit, Mylady“, forderte er sie auf und führte sie dann durch ein heilloses Gewirr düsterer Gänge. Endlich nahm er einen riesigen Ring vom Gürtel, an dem zahllose Schlüssel
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