Orphan 2 Juwel meines Herzens
schlimmsten Augenblicke seines Lebens begegnet. Doch statt ihn zu verurteilen, hatte sie viel gewagt, um ihn zu retten - selbst als er ihre Hilfe abgelehnt hatte. Es war wirklich eine grausame Strafe des Schicksals, dass er diese mutige, bescheidene und schöne Frau erst getroffen hatte, als ihm alles entglitt. Und doch war es ihr gelungen, einen Weg zu seinem Herzen zu finden. In gewisser Weise ähnelten er und Charlotte einander sehr. Beide waren sie Überlebende. Und weil sie wusste, was es bedeutete, zum Äußersten getrieben zu werden, verurteilte sie andere nicht mit dieser frömmelnden Überheblichkeit, die er sonst von Frauen kannte. Ja, deshalb hatte sie auch so entschlossen versucht, ihm zu helfen, als er bei den Chadwicks in der Falle gesessen hatte... und ihm vertraut, als sie selbst in höchsten Nöten schwebte. Ja, sie hatte sich ihm sogar mit ihrem ganzen Körper und Herzen hingegeben und hinterher nicht schockiert getan über die brennende Leidenschaft, die sie miteinander geteilt hatten. Auf ihre bescheiden mutige Art war Charlotte tatsächlich viel stärker und ehrlicher als er selbst. Ihr gesamtes Wesen erfüllte ihn gleichermaßen mit Demut und Ehrfurcht.
Und in diesem Augenblick wünschte er nichts sehnlicher, als sie fest im Arm zu halten und ihr die Wahrheit zu offenbaren.
„Als ich vierundzwanzig war, brachte mein Vater sich um“, begann er fast tonlos. „Er schoss sich in den Kopf. Ob dies nun in einem Augenblick der Umnachtung geschah oder er bei vollem Bewusstsein war, kann ich dir nicht beantworten. Er litt damals schon seit Jahren an einer Geisteskrankheit. Was mit einigen amüsanten Zwischenfällen von Vergesslichkeit und Zerstreutheit begann, entwickelte sich mit der Zeit zu einem wahren Grauen. “
„Was geschah denn nur mit ihm? “
„Alles begann mit Übelkeit und entsetzlichen Kopfschmerzen
, gegen die nichts half, außer sich bei vollkommener Stille in einen abgedunkelten Raum zurückzuziehen. Oft ver harrte er so einen ganzen Tag oder länger, ohne auch nur das Geringste zu sich zu nehmen. Meine Mutter holte die besten Ärzte des ganzen Königreichs, ja sogar vom Kontinent in unser Haus, um Papa zu untersuchen. Sie kamen zu den unterschiedlichsten Befunden. Der eine machte zu fetthaltige Ernährung verantwortlich, ein anderer bezweifelte, dass das Gehirn ausreichend mit Blut versorgt würde. Ein Dritter vermutete einen Tumor und war ganz begierig darauf, ihm den Schädel zu öffnen, um das Geschwür zu entfernen. Er teilte meiner Mutter mit, dass nicht zu erwarten stand, dass der Patient die Operation überlebte - aber immerhin würde er im Dienste der Wissenschaft einen edlen Tod sterben. Unnötig zu sagen, dass sie den Kerl aus dem Haus warf. Wieder ein anderer diagnostizierte eine besondere Art von Kopfschmerzen namens Migräne und begann meinen Vater mit zahllosen widerwärtigen Mixturen zu behandeln: Baldrian, Chinarinde, Schierling, Kampfer, Myrrhe und Opium, um nur einige der Zutaten zu nennen. Als nichts davon half, zog der Doktor meinem Vater drei Zähne, was sein Leiden aber nur weiter verschlimmerte. Sogar zur Ader ließ er ihn, zum Teufel. Papa ging es jedenfalls immer nur elender. Die Kopfschmerzen blieben, und er verfiel immer mehr dem Wahn. Unseligerweise merkte lange niemand aus der Familie, wie ernst es wirklich um ihn stand. Wann immer er etwas vergaß oder ohne jeden Grund in einen Wutanfall ausbrach, dachten wir, es läge an den Nebenwirkungen der zahllosen Medikamente. Insbesondere meine Mutter betonte stets, dass diese Aussetzer angesichts seiner Leiden nur zu verständlich seien - selbst als er eines Nachts versuchte, sie zu erwürgen. Sie hatte ihr Leben lang alles getan, um ihn zu unterstützen. Daher war sie auch unerschütterlich davon überzeugt, dass er wieder ganz er selbst sein würde, sobald er nur das richtige Mittel gegen die Kopfschmerzen gefunden hatte. Bis dahin wies sie sowohl uns Kinder als auch die Dienstboten an, Papa mit äußerstem Respekt zu behandeln, seine Launen zu übergehen und sein sonderbares Gebaren stets geschickt zu entschuldigen, wenn ein Fremder dabei war. Und während wir uns also bemühten, meinem Vater seine Würde zu lassen, wirtschaftete er die Familie in den Bankrott. Selbstverständlich kann man ihm keinerlei Schuld dafür geben. Er wusste ja kaum, was er tat. Eines Tages aber, als ihm das ganze Ausmaß des Desasters bewusst wurde, ging er auf sein Arbeitszimmer und erschoss sich. “
Harrison zwang sich zu
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