Orphan 2 Juwel meines Herzens
einem gleichmütigen Gesichtsausdruck. Dennoch entging Charlotte selbstverständlich nicht, wie schmerzvoll die Geschichte seines Vaters noch immer für ihn war. Bestimmt tat es ihm gut, sich das alles einmal von der Seele zu reden.
„Erzähl weiter“, bat sie ihn also.
„Ich war damals vierundzwanzig und kein schlimmerer Narr, als junge Adlige es gewöhnlich in diesem Alter zu sein pflegen. Nur hatte mein fehlender Sinn für Verantwortung schlimmere Folgen als bei meinen Freunden. Damals dachte ich, ich wäre in eine kleine Tänzerin vom Variete verliebt. Den ganzen Tag war ich gedanklich fast ausschließlich mit meiner Affäre beschäftigt. Ich hatte mich nie auch nur für fünf Pennys um die Verwaltung des Familienbesitzes oder die Kunst finanzieller Investition gekümmert. Vermutlich dachte ich schlicht, dass Geld eben in Hülle und Fülle auf der Bank lag und ich es eines Tages zusammen mit dem Titel erben würde. Nach der Beerdigung meines Vaters musste ich meinen Irrtum allzu schnell erkennen. In seinen beiden letzten Lebensjahren hatte er mehrere Geschäfte getätigt, die anfänglich durchaus Erfolg versprechend wirkten, aber dann keinen Penny einbrachten. Der Schuldenberg wurde schnell höher. Papa begann verzweifelt, wahllos Wertsachen aus unserem Besitz zu verkaufen: Kunstgegenstände, Schmuck, ja sogar Land - was immer er in klingende Münze zu verwandeln vermochte. Seine Geschäftspartner zeigten sich mehr als bereit, auf diese Art der Bezahlung einzugehen, und kümmerten sich des Öfteren selbst um diskrete Käufer. All dies wurde nur unzureichend schriftlich festgehalten, aber ich vermutete bald, dass man meinen Vater in jener Zeit betrogen hatte. Ich wandte mich an die Polizei, aber dort erklärte man mir, dass die Beweise für ein Verfahren nicht ausreichten
- und weitere Ermittlungen wären nur langwierig, teuer und noch dazu wenig aussichtsreich. So saß ich also mit einem riesigen Schuldenberg, Landbesitz, der schwer mit Hypotheken belastet war, und einer Familie, die wie gelähmt nach dem Tod meines Vaters zu sein schien. Weder meine Geschwister noch meine Mutter wollten glauben, dass unsere finanzielle Lage wirklich so verzweifelt war. “ Plötzlich ging Charlotte ein Licht auf. „Also hast du beschlossen, zumindest Teile eures verlorenen Eigentums zurückzustehlen - und zwar zuerst den Schmuck. “
Er nickte. „Die Banken waren nicht gewillt, mir weitere Kredite einzuräumen. Ich war wütend auf mich, weil ich es so weit hatte kommen lassen. Wieso war ich nur so naiv gewesen, meiner Mutter zu glauben, als sie darauf bestand, dass Papa unsere Geschäfte weiterführte? Als ich die ganze hässliche Wahrheit erfuhr, musste ich schnell handeln. Da ich mich noch immer als rechtmäßiger Besitzer der Dinge fühlte, die wir verloren hatten, beschloss ich, sie eben zurückzuholen. Gemälde und dergleichen zu stehlen war selbstverständlich zu umständlich. Ich hätte sie auch schlecht weiterverkaufen können. Das war bei den Juwelen schon anders. Die Steine sind klein und leicht zu Geld zu machen, weil man sie ja ohne größere Umstände aus der Fassung lösen und dann einzeln anbieten kann. Innerhalb eines Jahres brach ich in zahlreiche Häuser ein und stahl, was früher den Brydens gehört hatte. Die Zeitungen tauften mich, Der Schatten', und ich fühlte mich fast ein wenig geschmeichelt in all meiner Arroganz. Die Schreiberlinge berichteten in aller Ausführlichkeit von meinen Raubzügen. Viele Leute in London sahen in mir einen romantischen Helden, der die Reichen bestiehlt, ohne aber jemals jemanden dabei zu verletzen. Meine Beute verkaufte ich, bezahlte damit die Schulden und tätigte einige vorsichtige Investitionen. Glücklicherweise besitze ich ein echtes Händchen für Geschäfte. Mit der Zeit gelang es mir, das Familienvermögen wieder zu mehren. “
»Wie lange hast du solche Einbrüche begangen? “
»Fast ein volles Jahr. Vielleicht hätte ich mein Unwesen auch noch länger getrieben, aber in einer Nacht bin ich beim Klettern böse gefallen und verletzte mir den Rücken, Einen Augenblick lang dachte ich, ich könnte nicht mehr aufstehen. Da hatte ich genug. Es war wirklich dämlich zu glauben, ich könnte ewig so weitermachen, ohne dass man mich erwischte. Und ich war nicht nur für mich verantwortlich, sondern auch für meine Mutter, Margaret und Frank. Die Diebstähle des Schattens fanden damit ein jähes Ende. Die Leute ergingen sich in wilden Vermutungen: Der Schatten wäre
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