Ort des Grauens
Möglicherweise nichts Häßliches. Außer, daß einem nicht erlaubt war, wieder zurückzukehren und die Menschen zu sehen, die man liebte. Das war scheußlich genug - auch wenn das Essen dort gut sein sollte. Möglicherweise gelangten manche Menschen in den Himmel, andere in die Hölle, aber von beiden konnte man nicht zurückkehren.
Also waren die beiden Teile des Orts des Grauens nur andere Zimmer. Und er war nicht sicher, ob es Himmel und Hölle wirklich gab, also war möglicherweise aües, was es am Ort des Grauens gab, Dunkelheit und Kälte und so viel leerer Raum, daß man, wenn man da hinüberging, nicht mal die Menschen finden konnte, die vor einem gegangen waren.
Das ängstigte ihn am meisten.
Nicht nur, Julie an den Ort des Grauens zu verlieren, sondern nicht mal imstande zu sein, sie wiederzufinden, wenn er selbst hinüberging.
Angst vor der Nacht hatte er ohnehin schon. Diese riesige Leere. Der Deckel war abgenommen von der Welt. Wenn also die Nacht in sich selbst schon so furchterregend war, würde der Ort des Grauens gewiß noch viel, viel gräßlicher sein. Er war bestimmt noch riesiger, gewaltiger als die Nacht, und das Licht des Tages erreichte den Ort des Grauens nie.
Draußen wurde der Himmel dunkler.
Der Wind peitschte die Palmen.
Regentropfen rannen die Scheibe hinunter.
Das Böse Ding war weit weg.
Aber es würde näherkommen. Bald.
28
Candy erlebte einen dieser Tage, an denen er nicht akzeptieren konnte, daß seine Mutter tot war. Jedesmal wenn er über eine Schwelle trat oder um eine Ecke bog, erwartete er, sie zu sehen. Er glaubte, er höre das Schaukeln des Schaukelstuhls aus dem Salon, hörte sie leise vor sich hinsummen, während sie ein neues Zierdeckchen strickte, doch als er hineinging, um nachzusehen, war der Schaukelstuhl von einem Staubfilm bedeckt und von Spinnennetzen überzogen.
Einmal hastete er in die Küche und erwartete, sie dort in einem ihrer geblümten Hauskleider vorzufinden, eine weiße Rüschenschürze darüber gebunden, erwartete, sie würde einen Löffel Plätzchenteig auf ein Backblech setzen oder vielleicht Kuchenteig kneten, doch - natürlich - war sie nicht da.
In einem Moment akuter Gefühlsverwirrung eilte Candy die Treppe hinauf, war sich sicher, seine Mutter in ihrem Bett zu finden, doch als er in ihr Zimmer stürmte, fiel ihm ein, daß das jetzt sein Zimmer war, und daß sie gestorben war.
Um sich aus dieser eigenartigen und besorgniserregenden Stimmung zu lösen, ging er schließlich in den Hinterhof und stellte sich neben ihr einsames Grab in der nordöstlichen Ecke des großen Grundstücks. Da hatte er sie damals vor sieben Jahren unter einem düsteren Winterhimmel begraben, der dem geähnelt hatte, der eben jetzt die Sonne verbarg. Und wie damals kreiste auch jetzt ein Falke über ihm.
Er hatte ihr Grab ausgehoben, sie in Tücher gehüllt, die er mit Chanel No. 5 parfümiert hatte, und sie heimlich hineingelegt, weil Bestattungen auf privatem Grund und Boden, der nicht als Grabstätte ausgewiesen war, gegen das Gesetz waren. Hätte er zugelassen, daß sie irgendwo anders begraben wurde, hätte er mitgehen müssen, um dort bei ihr zu leben, denn er hätte es nicht ertragen können, für längere Zeit von ihren sterblichen Überresten getrennt zu sein.
Candy ließ sich auf die Knie fallen.
Der Grabhügel hatte sich im Lauf der Jahre gesenkt, bis die Stelle nur noch als flache Mulde zu erkennen war. Das Gras wuchs hier spärlicher, die Halme waren grob, spröde, unterschieden sich vom Rasen, der das Grab umgab. Er hatte keine Ahnung, warum das so war. Auch in den Monaten, die ihrer Beerdigung gefolgt waren, hatte sich das Gras nicht erholt. Es gab keinen Grabstein, der an ihr Hinscheiden erinnerte. Obwohl der Hof von der hohen Hecke vor neugierigen Blicken geschützt war, konnte er nicht riskieren, daß irgend jemand auf ihre gesetzwidrige letzte Ruhestätte aufmerksam wurde.
Während er auf den Boden starrte, fragte sich Candy, ob ihm ein Grabstein wohl helfen würde, ihren Tod zu akzeptieren.
Wenn er jeden Tag ihren Namen und das Datum ihres Todes tief in einen Marmorblock eingemeißelt sähe, könnte dieser Anblick langsam, aber dauerhaft den Verlust in sein Herz eingravieren und ihm Tage wie diesen ersparen, an denen ihn schiere Vergeßlichkeit und eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen konnte, aus der Bahn warfen.
Er streckte sich auf dem Grab aus, ein Ohr auf den Boden gelegt, als erwarte er, sie würde von ihrem unterirdischen
Weitere Kostenlose Bücher