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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Gruseln. Es war ja nicht, als ob er schon gestorben wäre oder so.

    Jimmy verbrachte seine erste Nacht in RejoovenEsense im VIP-Gästehotel. Er goss sich einen Drink an der Minibar ein, einen Scotch pur, so echt wie es nur ging, dann verbrachte er eine Weile damit, sich den Ausblick von seinem Fenster anzuschauen – nicht dass er viel erkennen konnte außer Lichtern. Er konnte die Paradice-Kuppel sehen, einen ungeheuren Halbkreis in der Ferne, von unten mit Flutlicht angestrahlt, aber er wusste noch nicht, um was es sich handelte. Er dachte, es wäre eine Eislaufhalle.
    Am nächsten Morgen nahm Crake ihn zu einer ersten Führung durch den RejoovenEsense-Komplex mit. Sie fuhren in seinem aufgemotzten elektrischen Golfkarren. Es war, musste Jimmy zugeben, in jeder Hinsicht spektakulär. Alles war blitzsauber, landschaftlich durchgestaltet, ökologisch makellos und sehr teuer. Die Luft war partikelfrei, dank der vielen solargetriebenen Wirbelfiltertürme, diskret platziert und als moderne Kunstwerke verkleidet. Regulativgestein kümmerte sich um das Mikroklima, tellergroße Schmetterlinge trieben zwischen den leuchtend gefärbten Sträuchern umher. Im Vergleich sahen alle anderen Komplexe, in denen Jimmy je gewesen war, Watson-Crick eingeschlossen, schäbig und veraltet aus.
    »Was bezahlt denn für das alles?«, fragte er Crake, als sie am Luxus-Einkaufszentrum, alles vom Feinsten, vorbeikamen – überall Marmor, Kolonnaden, Cafés, Farne, Stände mit Take-Out-Essen, Rollschuhwege, Safttheken, ein sich selbst versorgendes Fitnessstudio, wo die Benutzung der Laufbänder die Glühbirnen zum Leuchten brachte, Brunnen im römischen Stil mit Nymphen und Meeresgöttern.
    »Die Trauer angesichts des unausweichlichen Todes«, sagte Crake.
    »Der Wunsch, die Zeit anzuhalten. Die Natur des Menschen.«
    Was nicht besonders aufschlussreich sei, sagte Jimmy.
    »Wirst ja sehen«, sagte Crake.

    Sie aßen in einem der Fünfsterne Rejoov-Restaurants zu Mittag, auf einer klimatisierten Pseudoterrasse, von wo der Blick auf das zentrale Gewächshaus für organische Botanik des Komplexes fiel.
    Crake nahm das Kängulamm, eine neue australische Genkombination, die das sanfte Wesen und den Eiweißreichtum von Schafen mit der Widerstandsfähigkeit des Kängurus gegen Krankheit und das Fehlen der methanproduzierenden, ozonvernichtenden Flatulenz vereinigte. Jimmy bestellte den rosinengefüllten Kapaun – echter Freilandkapaun, echte sonnengetrocknete Rosinen, versicherte ihm Crake. Jimmy war so an ChickieNobs gewöhnt, an ihre milde tofuartige Konsistenz und ihren unaufdringlichen Geschmack, dass der Kapaun ziemlich wild schmeckte.
    »Meine Einheit nennt sich Paradice«, sagte Crake, als sie bei der flambierten Sojabanane waren. »Woran wir arbeiten, ist die Unsterblichkeit.«
    »Das tun doch alle«, sagte Jimmy. »Bei Ratten ist es schon irgendwie gelungen.«
    »Irgendwie ist der kritische Punkt«, sagte Crake.
    »Was ist denn mit den Kryogenik-Leuten?«, sagte Jimmy. »Man lässt seinen Kopf einfrieren, und der Körper wird wieder zusammengefügt, wenn man erst mal raus hat, wie’s geht? Die machen ein Bombengeschäft, ihr Aktienkurs ist hoch.«
    »Sicher, und nach zwei Jahren wirft man dich zur Hintertür raus und sagt den Verwandten, es war ein Stromausfall. Egal, wir lassen das Einfrieren weg.«
    »Wie meinst du das?«
    »Bei uns«, sagte Crake, »müsstest du nicht erst sterben.«
    »Das habt ihr wirklich geschafft?«
    »Noch nicht«, sagte Crake. »Aber denk mal an das Forschungs- und Entwicklungsbudget.«
    »Millionen?«
    »Mega-Millionen«, sagte Crake.
    »Kann ich noch was zu trinken haben?«, sagte Jimmy. Er hatte eine Menge zu verkraften.
    »Nein. Mir ist wichtig, dass du zuhörst.«
    »Ich kann zuhören und dabei trinken.«
    »Nicht so gut.«
    »Versuch’s mal«, sagte Jimmy.

    In Paradice, sagte Crake – und sie würden die Anlage nach dem Essen aufsuchen –, waren zwei große Projekte in Arbeit. Das erste – die BlyssPluss-Pille – war von prophylaktischer Art, und die zu Grunde liegende Logik war einfach: Eliminier die äußeren Ursachen des Todes, und du bist bereits halb am Ziel.
    »Äußere Ursachen?«, sagte Jimmy.
    »Krieg, also fehlgeleitete sexuelle Energie, die wir für einen größeren Faktor halten als die oft angeführten wirtschaftlichen, rassischen und religiösen Gründe. Ansteckende Krankheiten, besonders die Geschlechtskrankheiten. Überbevölkerung, die – wie wir in Dutzenden von Fällen gesehen

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