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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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hatte, war aufgetaucht, hatte seine Mauer des Schweigens durchbrochen. Sie war gegen zehn mit etwas zu essen vorbeigekommen – Hühnchen und Pommes frites, sie wusste, was er gern aß – und einer Flasche Scotch.

    »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht«, sagte sie. Was sie wirklich wollte, war ein bisschen Sex, also hatte er sein Bestes gegeben, und sie hatte ihren Spaß gehabt, aber er war nicht bei der Sache, und das musste offensichtlich gewesen sein. Dann kam das Übliche: Was ist denn los, findest du mich langweilig, du bist mir wirklich wichtig, und so weiter und blabla.
    »Verlass deinen Mann«, hatte Jimmy gesagt, um ihr das Wort abzuschneiden. »Lass uns ins Plebsland durchbrennen und in einer Wohnwagensiedlung leben.«
    »Also, ich glaube nicht… Das meinst du doch nicht ernst.«
    »Was, wenn doch?«
    »Du weißt doch, dass du mir wichtig bist. Aber er ist mir auch wichtig, und…«
    »Von der Taille abwärts.«
    »Bitte?« Sie war eine gebildete Frau, sie sagte Bitte? statt Was?.
    »Ich sagte, von der Taille abwärts. Da bin ich dir wirklich wichtig.
    Soll ich es dir buchstabieren?«
    »Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, du bist so grob in letzter Zeit.«
    »Überhaupt nicht mehr lustig.«
    »Na ja, ehrlich gesagt, nicht.«
    »Dann verpiss dich.«
    Danach hatten sie sich gestritten, und sie hatte geweint, worauf Jimmy sich komischerweise wieder besser gefühlt hatte. Danach hatten sie den Scotch leer gemacht. Danach hatten sie noch mal Sex gehabt, und diesmal hatte Jimmy seinen Spaß, sie allerdings nicht, weil er zu rau und schnell gewesen war und ihr nichts Schmeichelhaftes gesagt hatte, wie
    er es sonst immer tat. Wunderbarer Arsch, und so weiter und so fort.
    Er hätte nicht so kratzbürstig sein sollen. Sie war eine gute Frau mit echten Titten und eigenen Sorgen. Er fragte sich, ob er sie je wieder sehen würde. Höchstwahrscheinlich schon, denn sie hatte diesen Ich-kann-dich-heilen-Blick in den Augen, als sie gegangen war.

    Als Jimmy gepinkelt hatte und dabei war, das Bier aus dem Kühlschrank zu holen, summte die Gegensprechanlage. Da war sie, wie aufs Stichwort. Sofort fühlte er sich wieder mürrisch. Er ging hinüber zum Hörer. »Geh weg«, sagte er.
    »Hier ist Crake. Ich steh unten.«

    »Das glaub ich nicht«, sagte Jimmy. Er tippte die Zahlen für die Videokamera in der Eingangshalle ein: Es war tatsächlich Crake, der ihn den Mittelfinger und sein Grinsen sehen ließ.
    »Lass mich rein«, sagte Crake, und Jimmy ließ ihn rein, denn in dem Augenblick war Crake so ziemlich die einzige Person, die er sehen wollte.
    Crake war im großen Ganzen derselbe. Er trug dieselbe dunkle Kleidung. Er hatte nicht mal Haar verloren.
    »Was zum Teufel machst du denn hier?«, sagte Jimmy. Nach dem ersten Anfall von Freude war es ihm peinlich, dass er noch nicht angezogen war und dass seine Wohnung von Staubflocken, Zigarettenstummeln, schmutzigen Gläsern, leeren Essensschachteln übersät war, aber Crake schien das nicht zu bemerken.
    »Schön, dass du dich so freust«, sagte Crake.
    »Tut mir Leid. Ist nicht so gut gelaufen in letzter Zeit«, sagte Jimmy.
    »Ja, das hab ich gesehen. Deine Mutter. Ich hab dir eine E-Mail geschickt, aber du hast nicht geantwortet.«
    »Ich hab meine E-Mails nicht mal angeschaut«, sagte Jimmy.
    »Verständlich. Es war auf Brainfrizz: Anstiftung zur Gewalt, Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation, Behinderung der Verteilung von kommerziellen Produkten, Hochverrat. Ich nehme an, der letzte Punkt bezog sich auf die Demos, an denen sie teilgenommen hat. Steine schmeißen oder so was. Zu schade, sie war eine nette Dame.«
    Weder nett noch Dame traf Jimmys Ansicht nach zu, aber er war nicht in der Stimmung, das jetzt zu diskutieren, nicht so früh am Tag. »Magst du ein Bier?«, sagte er.
    »Nein danke«, sagte Crake. »ich bin nur vorbeigekommen, um dich zu besuchen. Zu schauen, ob es dir gut geht«.
    »Mir geht’s gut«, sagte Jimmy.
    Crake sah ihn an. »Lass uns in die Plebs fahren«, sagte er. »Durch ein paar Bars bummeln.«
    »Das soll ein Witz sein, nicht?«, sagte Jimmy.
    »Nein, im Ernst. Ich hab die Passierscheine. Meinen regulären und einen für dich.«
    Daran erkannte Jimmy, dass Crake wirklich jemand sein musste. Er war beeindruckt. Mehr noch, er war gerührt, dass Crake sich Sorgen um ihn gemacht hatte, den ganzen langen Weg gekommen war, um ihn zu besuchen. Obwohl sie in letzter Zeit nicht in engem Kontakt miteinander gestanden hatten – Jimmys

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