Oryx und Crake
vor – Jetlag, Kopfschmerzen, etwas Plausibles. Ihre Einfälle waren makellos, sie war die beste Lügnerin auf Erden, so dass es bloß einen Gutenachtkuss für den Dummkopf Crake gab, ein Lächeln, ein Winken, eine geschlossene Tür, und im nächsten Augenblick war sie bei ihm, bei Jimmy.
Wie mächtig dieses Wort war. Bei.
Er konnte sich nie an sie gewöhnen, sie war jedes Mal frisch, sie war eine Truhe voller Geheimnisse. Jeden Moment würde sie sich öffnen, ihm ihr eigentliches Wesen zeigen, das im Kern des Lebens oder ihres Lebens oder seines Lebens Verborgene – das, was er sich zu wissen sehnte. Das, was er immer gewollt hatte. Was würde es sein?
»Was ist damals in der Garage eigentlich passiert?«, sagte Jimmy. Er ließ sie mit ihrem Vorleben nicht in Ruhe, es trieb ihn, alles herauszufinden. Kein Detail war ihm zu klein in jenen Tagen, kein schmerzhafter Splitter ihrer Vergangenheit zu winzig. Vielleicht grub er nach ihrem Zorn, aber er fand ihn nie. Entweder war er zu tief vergraben oder es gab ihn überhaupt nicht. Aber das konnte er nicht glauben. Sie war keine Masochistin, sie war keine Heilige.
Sie waren in Jimmys Schlafzimmer, lagen zusammen auf dem Bett mit dem Digitalfernseher an, der an seinen Computer angeschlossen war, irgendeine Kopulations-Website mit Tierkomponente, einem Paar von gut trainierten Schäferhunden und einer gelenkigen Albinofrau, die am ganzen Körper mit Eidechsen tätowiert war. Der Ton war abgedreht, nur das Bild war da: eine erotische Tapete.
Sie aßen gerade Hühnchenhappen von einem der Schnellrestaurants im nächstgelegenen Einkaufszentrum, mit Sojapommes und Salat. Einige der Salatblätter waren Spinat aus dem Rejoov-Gewächshaus: keine Pestizide, oder keine, die man zugab. Die anderen Blätter waren eine Kohlgenkombination – riesige Kohlbäume, die unaufhörlich nachwuchsen, sehr produktiv. Dem Zeug haftete ein Hauch von Abwasser an, aber die Sauce überdeckte das.
»Welche Garage, Jimmy?«, sagte Oryx. Sie hörte nicht zu. Sie aß gerne mit den Fingern, sie hasste Besteck. Warum sollte man ein Stück scharfkantiges Metall in den Mund stecken? Sie sagte, das Essen schmecke davon nach Blech.
»Du weißt schon welche Garage«, sagte er. »Die in San Francisco.
Dieser Widerling. Diese Schießbudenfigur, die dich gekauft hat, dich eingeflogen hat und seine Frau sagen ließ, du wärst das Dienstmädchen.«
»Jimmy, warum denkst du dir solche Sachen aus? Ich bin nie in einer Garage gewesen.« Sie leckte sich die Finger ab, zerriss einen Happen in bissgerechte Stücke und fütterte Jimmy mit einem Bissen. Dann ließ sie ihn ihre Finger für sie lecken. Er fuhr mit seiner Zunge um die kleinen Ovale ihrer Fingernägel. Näher konnte sie ihm nicht kommen, ohne zu Essen zu werden: Sie war in ihm, oder ein Teil von ihr war in seinem Mund. Sex funktionierte anders herum: Solange sie damit beschäftigt waren, war er in ihr. Du sollst mein werden, sagten Liebende in alten Büchern. Sie sagten nie: Du sollst ich werden.
»Ich weiß, dass du es warst«, sagte Jimmy. »Ich hab die Bilder gesehen.«
»Welche Bilder?«
»Der so genannte Dienstmädchenskandal. In San Francisco. Hat dich dieser widerliche alte Sack zum Sex gezwungen?«
»Ach Jimmy.« Ein Seufzer. »Also das geht dir durch den Kopf. Ich hab das gesehen. Im Fernsehen. Warum machst du dir Gedanken über so einen Menschen? Der war so alt, er war so gut wie tot.«
»Nein, aber hat er?«
»Niemand hat mich zu Sex in einer Garage gezwungen. Hab ich dir doch gesagt.«
»Also gut, Korrektur: Niemand hat dich gezwungen, aber hattest du trotzdem Sex?«
»Du verstehst mich nicht, Jimmy.«
»Das möchte ich aber.«
»Im Ernst?« Pause. »Diese Sojapommes sind dermaßen gut. Stell dir nur mal vor, Jimmy – Millionen von Leuten auf der Welt haben noch nie solche Pommes gegessen! Wir haben wirklich Glück.«
»Sag’s mir.« Es konnte nur sie gewesen sein. »Ich werd nicht wütend.«
Ein Seufzer. »Er war ein freundlicher Mann«, sagte Oryx mit der Stimme eines Märchenerzählers. Manchmal hatte er sie im Verdacht, sich einfach Dinge auszudenken, nur um ihm einen Gefallen zu tun; manchmal hatte er das Gefühl, ihre gesamte Vergangenheit – alles, was sie ihm erzählt hatte – sei von ihm selbst erfunden. »Er rettete junge Mädchen. Er bezahlte mein Flugticket, genau wie berichtet wurde. Wäre er nicht gewesen, war ich jetzt nicht hier. Du solltest ihn mögen!«
»Warum sollte ich so einen heuchlerischen,
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