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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Gesicht läuft. Sie sind immer alle gegenwärtig, weil sie jetzt alle hier bei mir sind.
    Oh Jimmy, wie positiv gedacht! Es freut mich, wenn du das begreifst.
    Paradice ist verloren gegangen, aber du hast ein Paradice in dir, wie viel besser! Dann dieses silberne Lachen, direkt in sein Ohr.

    Jimmy hatte Oryx nicht sofort erkannt, obwohl er sie an jenem ersten Nachmittag gesehen haben muss, als er durch die verspiegelte Scheibe blickte. Genau wie die Craker war sie unbekleidet, und genau wie die Craker war sie schön, also unterschied sie sich aus der Entfernung nicht von ihnen. Sie trug ihr langes dunkles Haar ohne Schmuck, sie hatte ihm den Rücken zugewandt, sie war umgeben von einer Gruppe; einfach Teil der Szene.
    Ein paar Tage später, als Crake ihm zeigte, wie man die Überwachungsbildschirme bediente, die Bilder über versteckte Minikameras in den Bäumen aufnahmen, sah Jimmy ihr Gesicht. Sie wandte sich zur Kamera, und da war er wieder, dieser Blick, dieser durchdringende Blick, der ihn sah, wie er wirklich war. Das Einzige, was sich geändert hatte, waren die Augen, die dasselbe leuchtende Grün wie die der Craker hatten.
    Als er in diese Augen blickte, empfand Jimmy einen Augenblick reiner Glückseligkeit, reinen Entsetzens, denn jetzt war sie nicht mehr nur ein Bild – nicht mehr bloß ein Foto in Form eines groben Ausdrucks, das gegenwärtig zwischen seiner Matratze und der dritten Querlatte seines neuen Betts in der Rejoov-Suite ruhte. Plötzlich war sie real, dreidimensional. Er hatte das Gefühl, er habe sie geträumt. Wie konnte sich eine Person auf diese Art einfangen lassen, in einem einzigen Moment, durch einen einzigen Blick, das Heben einer Braue, die Krümmung eines Arms? Aber er war gefangen.
    »Wer ist das?«, fragte er Crake. Sie trug ein junges Wakunk und hielt den Crakern, die um sie herum standen, das kleine Tier hin; die anderen berührten es vorsichtig. »Sie ist keine von ihnen. Was macht sie da drin?«
    »Sie ist ihre Lehrerin«, sagte Crake. »Wir brauchten eine Mittelsperson, jemand, der mit ihnen auf ihrer Ebene kommunizieren kann. Einfache Konzepte, keine Metaphysik.«
    »Was bringt sie ihnen bei?« Jimmy sagte dies mit gleichgültiger Stimme. Es wäre keine gute Idee gewesen, wenn er in Crakes Gegenwart zu viel Interesse an einer Frau gezeigt hätte: Die Folge wären spöttische Seitenhiebe gewesen.
    »Botanik und Zoologie«, sagte Crake mit einem Grinsen. »Mit anderen Worten, was sie nicht essen dürfen und was beißen könnte. Und wem man nicht wehtun darf«, fügte er hinzu.
    »Und dafür muss sie nackt sein?«
    »Sie haben noch nie Kleidung gesehen. Kleidung würde sie nur verwirren.«
    Die Lektionen, die Oryx ihnen gab, waren kurz: eine Sache zur Zeit, sei das Beste, sagte Crake. Die Paradice-Modelle seien nicht dumm, aber sie fingen mehr oder weniger bei null an, also mochten sie Wiederholungen. Ein anderer Mitarbeiter, irgendein Spezialist auf diesem Gebiet, spreche mit Oryx das Thema des Tages durch – das Blatt, Insekt, Säugetier oder Reptil, das sie dann erklärte. Dann sprühte sie sich mit einem chemischen Präparat aus Zitrusfrüchten ein, um ihre menschlichen Pheromone zu verbergen – wenn sie das nicht täte, würde es Ärger geben, denn die Männer würden sie riechen und glauben, es wäre Paarungszeit. Wenn sie dann so weit sei, schlüpfe sie durch eine sich wieder einpassende Tür hinein, die hinter dichtem Laub verborgen war.
    »Sie vertrauen ihr«, sagte Crake. »Sie hat eine wunderbare Art, mit ihnen umzugehen.«

    Jimmy wurde es schwer ums Herz. Crake war verliebt, zum ersten Mal überhaupt. Es war nicht nur das Lob, was ja selten genug vorkam. Es lag im Ton seiner Stimme.
    »Wo hast du sie her?«, fragte er.
    »Ich kenn sie schon eine ganze Weile. Seit meiner Postgraduierten-Zeit bei Watson-Crick«.
    »Die hat da studiert?« Wenn ja, dachte Jimmy, dann was?
    »Das nicht gerade«, sagte Crake. »Ich hab sie über den Studentenservice kennen gelernt.«
    »Du warst der Student, sie war der Service?«, sagte Jimmy in dem Versuch, es leicht zu halten.
    »Genau. Ich hab ihnen gesagt, was ich suchte – man konnte da sehr genau sein, ihnen ein Bild mitbringen oder eine Videosimulation, solche Sachen, und die taten ihr Bestes, um einem das Entsprechende zu liefern. Was ich wollte, war etwas, das so aussah wie – erinnerst du dich noch an diese Webshow?…«
    »Welche Webshow?«
    »Ich hab dir damals einen Ausdruck gemacht. Von HottTotts – kennst du

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