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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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befreien, denn ich weiß, sie wird glücklicher sein, wenn sie frei und wild im Wald lebt.
    Auch das hatte Jimmy nicht geglaubt. Er war fuchsteufelswild gewesen. Wie konnte sie so was tun? Killer gehörte ihm! Und Killer war ein zahmes Tier, in der Wildnis wäre sie hilflos und unfähig, für sich zu sorgen, jeder hungrige Räuber würde sie augenblicklich in schwarz-weiße Fetzen zerreißen. Aber Jimmys Mutter und ihre Gesinnungsgenossen müssen doch Recht gehabt haben, denkt Schneemensch, offensichtlich haben sich Killer und die übrigen freigelassenen Wakunks sehr gut durchgeschlagen – wie sonst wäre zu erklären, weshalb sie sich derart vermehrt und in diesem Wald zu einer regelrechten Landplage ausgewachsen haben?
    Jimmy trauerte wochenlang. Nein, Monate. Um wen trauerte er mehr, um seine Mutter oder um ein gentechnisch verändertes Stinktier?
    Seine Mutter hatte noch eine zweite Nachricht hinterlassen. Nein, keine Nachricht – eine Botschaft ohne Worte. Sie hatte den Computer zerstört, den Jimmys Vater zu Hause stehen hatte, und keineswegs nur die Daten: Sie hatte ihn mit dem Hammer zertrümmert. Eigentlich hatte sie fast jedes Werkzeug aus dem tadellos geordneten und selten beanspruchten Heimwerkerkasten von Jimmys Vater benutzt, aber der Hammer war dann wohl die Waffe der Wahl gewesen. Sie hatte auch ihren eigenen Computer zerstört, sogar noch viel gründlicher, so dass weder Jimmys Vater noch die CorpSeCorps-Leute, von denen das Haus bald wimmelte, nachvollziehen konnten, welche kodierten Nachrichten sie wohin geschickt, welche Informationen sie eventuell heruntergeladen und mitgenommen hatte.
    Um die Kontrollstellen und Tore zu passieren, hatte sie angegeben, sie müsse wegen einer Wurzelkanalbehandlung einen Zahnarzt in einem der Module aufsuchen. Die entsprechenden Unterlagen sowie sämtliche erforderlichen Sicherheitsbescheinigungen konnte sie vorweisen, und die Geschichte hatte sogar einen realen Hintergrund: Den Wurzelkanalspezialisten der HelthWyzer-Zahnklinik hatte ein Herzinfarkt dahingerafft, und sein Ersatzmann war noch nicht eingetroffen, weshalb Behandlungen auswärts durchgeführt werden durften. Sie hatte sogar einen echten Termin mit dem Modul-Zahnarzt vereinbart, der Jimmys Vater dann eine Rechnung über ein Ausfallhonorar schickte. (Jimmys Vater weigerte sich zu zahlen, mit der Begründung, es sei schließlich nicht sein Termin gewesen; später hatten er und der Zahnarzt deswegen eine lautstarke Auseinandersetzung am Telefon.) Sie hatte sich gehütet, Gepäck mitzunehmen. Für die kurze Strecke durch Plebsland bis zur Umfassungsmauer des Moduls, die im Taxi zurückzulegen war, hatte sie einen CorpSeCorps-Mann als Begleitschutz bestellt; das war so üblich. Niemand fragte sie aus; sie war bekannt, und sie konnte den genehmigten Antrag, den Pass und alles andere vorweisen. Natürlich hatte kein Wächter am Tor des Komplexes einen Blick in ihren Mund geworfen, wo ohnehin nicht viel zu sehen gewesen wäre: Nervenschmerzen sind unsichtbar.
    Der CorpSeCorps-Mann muss mit ihr unter einer Decke gesteckt haben oder er war beseitigt worden; jedenfalls kam er nicht zurück und wurde nie gefunden. So hieß es jedenfalls. Und das erregte endgültig Aufruhr, denn es bedeutete ja, dass mehrere Personen in die Sache verwickelt waren. Aber wer waren sie, und was wollten sie? Die Angelegenheit müsse dringend geklärt werden, sagten die Corps-Leute, die Jimmy in die Zange nahmen. Ob seine Mutter ihm gegenüber je irgendetwas erwähnt habe, wollten sie wissen.
    Was meinten sie denn mit irgendetwas, fragte Jimmy. Da waren die mit Minimikro abgehörten Gespräche, aber darüber wollte er nicht reden. Dann die gelegentlichen Bemerkungen seiner Mutter, alles sei zerstört und könne nie wieder so werden wie früher, zum Beispiel das Haus am Strand, das ihre Familie besessen hatte, als sie selbst ein Kind gewesen war, und das fortgeschwemmt worden war, zusammen mit allen übrigen Stränden und ziemlich vielen Städten an der Ostküste, als erst der Meeresspiegel so schnell anstieg und später die riesige Flutwelle kam, ausgelöst von dem Vulkan auf den Kanarischen Inseln. (Sie hatten das in der Schule durchgenommen, im Fach Geolonomie; von der Videosimulation war Jimmy ziemlich beeindruckt gewesen.) Sie weinte auch der Grapefruitplantage ihres Großvaters in Florida nach, die vertrocknet war wie eine einzige riesige Rosine, seitdem es dort nicht mehr regnete; im selben Jahr war der Okeechobee-See zu einer

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