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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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fragte sich, ob Crake sich verändert hatte.
    Jimmy musste vor den Ferien noch ein paar Semesterarbeiten abschließen. Er hätte sie natürlich alle aus dem Web kaufen können –
    Martha Graham war bekanntermaßen nachlässig in der Beurteilung, und das Plagiieren war dort praktisch eine Heimindustrie –, aber er hatte diesbezüglich klar Stellung bezogen: Er würde alle seine Arbeiten selbst schreiben, so exzentrisch das scheinen mochte; eine Haltung, die bei dem hier vorherrschenden Frauentyp übrigens gut ankam. Sie erblickten darin intellektuelle Strenge, Risikobereitschaft und einen Anflug von Originalität, und das gefiel ihnen.
    Aus demselben Grund hatte er begonnen, viele Stunden in den abgelegeneren Regionen der Bibliothek zu verbringen und nach geheimem Wissen zu stöbern. Bessere Bibliotheken, in wohlhabenderen Institutionen, hatten schon längst ihren gesamten Bücherbestand verbrannt und bewahrten alle Informationen auf CD-ROM auf, Martha Graham hingegen war auch darin, wie in allem anderen, hinter der Zeit zurückgeblieben. Gewappnet mit Mund- und Nasenschutz gegen Schimmelsporen, streifte Jimmy die Regale modernden Papiers entlang und griff aufs Geratewohl hier und dort hinein.
    Was ihn dazu bewog, war teilweise Trotz; sogar Groll. Das System hatte ihn zu Ausschuss erklärt, und was er studierte, galt auf der Ebene der Entscheidungsträger, in den Kreisen der wahren Macht, als rückwärts gerichtete Zeitverschwendung. Gut, dann erhob er eben das Überflüssige zum Zweck an sich. Er wollte ein Meister darin werden, sein Verteidiger und Bewahrer. Wer hatte gesagt, alle Kunst sei vollkommen nutzlos? Jimmy erinnerte sich nicht, aber wer immer es war: Bravo! Je veralteter ein Buch war, desto eifriger verleibte es Jimmy seiner inneren Sammlung ein.
    Er stellte auch Listen alter Wörter zusammen – Wörter von einer Präzision und Suggestionskraft, für die es in der heutigen Welt – in der häutigen Welt, wie Jimmy manchmal absichtlich in seinen Aufsätzen schrieb (Rechtschreibung!, kommentierten die Profs dann am Rand, was zeigte, wie sehr sie auf dem Quivive waren) – keinen sinnvollen Verwendungszweck mehr gab. Er eignete sich diese altersgrauen Ausdrücke an und ließ sie bei Gelegenheit beiläufig ins Gespräch einfließen: Stellmacher, Magneteisen, saturnin, Adamant… Er entwickelte eine sonderbare Zärtlichkeit gegenüber solchen Wörtern, als wären sie Kinder, die im Wald ausgesetzt worden waren, und als wäre es seine Pflicht, sie zu retten.
    Eine seiner Arbeiten – für den Angewandte-Rhetorikkurs – trug den Titel »Selbsthilfe-Ratgeber des zwanzigsten Jahrhunderts: die Ausbeutung von Angst und Hoffnung«. Sie lieferte ihm wunderbare Witze für die Abende in den Studentenkneipen. Er zitierte daraus –
    Verbessern Sie Ihr Image; Der Zwölf-Stufen-Plan zur assistierten Selbsttötung; Freunde gewinnen und Menschen beeinflussen; In fünf Wochen zum Waschbrettbauch; Sie können Alles haben; Gäste empfangen ohne Haushaltshilfe; Trauerarbeit für Analphabeten –, und die versammelte Runde lachte sich schief.
    Er hatte jetzt wieder einen Kreis um sich geschart: ein wiedergefundenes Vergnügen. Oh, Jimmy, mach die Schönheitsoperation für Jedermann! Mach Entdecken Sie das Kind in sich! Oder Totale Weiblichkeit! Oder Biberrattenzucht für Liebhaber und Profis! Mach Das Überlebenshandbuch für Beziehung und Sex!
    Und Jimmy, der allzeit bereite Sänger-und-Tänzer, tat ihnen den Gefallen. Manchmal erfand er Titel, die es nie gegeben hatte – Singen und Beten gegen Divertikulitis war eine seiner besten Schöpfungen –, aber der Schwindel fiel nie auf.
    Das Thema erweiterte er später zu seiner Diplomarbeit und bekam ein
    »sehr gut« dafür.

    Zwischen Martha Graham und Watson-Crick bestand eine Zugverbindung, bei der man nur einmal von einem Hochgeschwindigkeitszug in einen anderen umsteigen musste. Den größten Teil der dreistündigen Fahrt verbrachte Jimmy damit, aus dem Fenster zu schauen und das vorüberziehende Plebsland zu betrachten.
    Endlose Zeilen schäbiger Reihenhäuser; Mietskasernen mit winzigen Balkonen, an deren Geländern Wäsche gespannt war; Fabriken mit rauchenden Schloten; Kiesgruben. Ein riesiger Müllberg neben einem Gebäude, das wahrscheinlich eine Abfallverbrennungsanlage war. Ein Einkaufszentrum, ähnlich wie die von HelthWyzer, nur dass auf den Parkplätzen keine Golfwagen mit Elektroantrieb standen, sondern Autos. Eine neonbeleuchtete Straße mit Bars und

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