Oryx und Crake
zu sein schien. In HelthWyzer war Crake nicht gerade das gewesen, was man sexuell aktiv nennen würde. Die Mädchen hatten ihn einschüchternd gefunden. Zwar hatte er ein paar Verrückte angelockt, die meinten, er könne über Wasser gehen; sie waren ihm nachgelaufen und hatten ihm ebenso glühende wie kitschige Mails geschickt und gedroht, sich seinetwegen die Pulsadern aufzuschneiden. Vielleicht hatte er bei Gelegenheit sogar mit ihnen geschlafen; aber nie hatte er für irgendein Mädchen einen Finger krumm gemacht. Nach seiner Auffassung war Verliebtsein, obwohl es eine Veränderung in der Körperchemie bewirkte und deshalb real war, ein hormonell herbeigeführter wahnhafter Zustand. Außerdem war es demütigend, weil es einen gegenüber dem anderen in eine nachteilige Lage versetzte, es verlieh dem Objekt der Liebe viel zu viel Macht. Und Sex als solcher stellte weder eine Herausforderung dar, noch hatte er den Reiz des Neuen und war insgesamt eine höchst unvollkommene Lösung für das Problem des generationenübergreifenden Gentransfers.
Die Mädchen, die Jimmy sammelte, fanden Crake mehr als ein bisschen unheimlich, und es gab Jimmy ein Gefühl von Überlegenheit, Partei für ihn zu ergreifen. »Er ist schon okay, er lebt nur auf einem anderen Planeten«, pflegte er zu sagen.
Aber wie sollte er Crakes momentane Situation auch kennen? Er gab ja wenig über sich preis. Teilte er sein Zimmer mit jemandem, hatte er eine Freundin? Er erwähnte weder das eine noch das andere, aber das hatte nichts zu bedeuten. In seinen Mails beschrieb er die Einrichtungen des Campus, die umwerfend waren – Aladdins Schatzhöhle der Bioforschung –, und, tja, was noch? Was hatte Crake in seinen knappen Mitteilungen aus der ersten Zeit am Watson-Crick-Institut wirklich zu sagen? Schneemensch weiß es nicht mehr.
Allerdings spielten sie Schach, Partien, die sich ewig in die Länge zogen: zwei Züge am Tag. Jimmy war inzwischen besser im Schach; es war leichter ohne Crakes konzentrationshemmende Gegenwart und seine Angewohnheit, mit den Fingern zu trommeln und vor sich hin zu summen, als könnte er bereits die nächsten dreißig Züge voraussehen und wartete nur geduldig, bis sich Jimmys Schildkrötenverstand zum nächsten Turmopfer weitergewälzt hatte. Außerdem konnte Jimmy zwischen den einzelnen Zügen in verschiedenen Websites die Großmeister und berühmten Spiele der Vergangenheit nachschlagen.
Crake machte das natürlich auch.
Nach fünf oder sechs Monaten wurde Crake ein bisschen lockerer. Er müsse sich mehr anstrengen als an der HelthWyzer High, schrieb er, die Konkurrenz sei viel größer. Unter den Studenten hieß Watson-Crick nur die AspergerU, wegen des hohen Anteils an hyperintelligenten Irren, die durch die Gänge schlurften, sprangen, torkelten. Halbe Autisten, genetisch gesehen; einspurige Tunnelblick-Denker mit einem ausgeprägten Maß an sozialer Inkompetenz und souveräner Verachtung eleganter Kleidung, zum Glück für alle Beteiligten aber mit einer hohen Toleranz gegenüber milden Formen von abweichendem Verhalten in der Öffentlichkeit.
Mehr als in HelthWyzer?, fragte Jimmy.
Im Vergleich zu hier war HelthWyzer ein Plebsland, antwortete Crake.
Da gab’s nur NTs.
NTs?
Neurotypische.
Das heißt?
Minus das Genie-Gen.
Bist du also ein Neurotyp?, fragte Jimmy in der folgenden Woche, nachdem er eine Zeit lang darüber hatte nachdenken können. Und sich den Kopf zerbrochen hatte, ob er selbst ein Neurotyp war, und wenn ja, ob das in Crakes Gestaltphilosophie schlecht war? Er fürchtete, die Antwort lautete in beiden Fällen ja.
Aber Crake gab darauf keine Antwort. So war er: Wenn er keine Lust hatte, auf eine Frage einzugehen, tat er so, als wäre sie nicht gestellt worden.
Du solltest herkommen und dir den Laden mal anschauen, schrieb er im zweiten Studienjahr, Ende Oktober. Da lernst du was fürs Leben. Ich tu so, als wärst du mein durchschnittsdämlicher Cousin. Komm in der Thanksgiving-Woche.
Die Alternative für ihn, schrieb Jimmy zurück, sei, sich mit den elterlichen Pfeifen einen zu pfeifen, Witz, haha, ☺, und dazu habe er keine Lust; also ja, er komme gern. Er sagte sich, dass er ein guter Kumpel war und Crake einen Gefallen tat – wen hätte der einsame Crake denn in den Ferien besuchen können, abgesehen von seinem öden alten, australopithecoiden nicht-mal-echten Onkel Pete? Aber er musste auch zugeben, dass Crake ihm fehlte. Seit mehr als einem Jahr hatte er ihn nicht gesehen. Er
Weitere Kostenlose Bücher