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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Girlie-Kneipen und einem urzeitlichen Kino. Er erspähte etliche Wohnwagenstellplätze und fragte sich, wie es wohl war, so zu leben: Schon der Gedanke verursachte ihm ein leises Schwindelgefühl – so stellte er sich das Leben in einer Wüste vor oder auf dem Meer. Alles im Plebsland schien so grenzenlos, so offen und durchlässig, so ungeschützt. Dem Zufall ausgeliefert.
    Nach einhelliger Auffassung der Komplex-Bewohner ereignete sich in Plebsland nichts, das irgendwie von Interesse war, abgesehen von Kauf und Verkauf: Ein geistiges Leben gab es nicht. Kauf und Verkauf und natürlich eine Menge Kriminalität; aber für Jimmy wirkte alles, was dort hinter den Sicherheitsabsperrungen war, geheimnisvoll und aufregend.
    Auch gefährlich. Er hatte keine Ahnung, welchen Regeln das Leben dort folgte, wie man sich verhielt. Er hätte nicht einmal ein Mädchen aufreißen können. Im Handumdrehen hätten sie ihn in seine Teile zerlegt. Sie hätten ihn ausgelacht. Er wäre Viehfutter geworden.

    Die Sicherheitskontrollen vor Watson-Crick waren außerordentlich gründlich, ganz anders als die schlampige Farce, die Martha Graham veranstaltete: Offenbar befürchtete die Verwaltung, dass sich irgendein Fanatiker einschlich und die klügsten Köpfe einer Generation in die Luft sprengte, was ein vernichtender Schlag gewesen wäre – meinten sie zumindest. Dutzende von CorpSe-Corps-Leuten standen auf Posten, bewaffnet mit Energiepistolen und Gummiknüppeln; sie trugen die Watson-Crick-Insignien, aber man sah ihnen sofort an, wer sie wirklich waren. Bei der Iriskontrolle gaben sie Jimmys Daten in ihr System ein, und gleich darauf nahmen ihn zwei mürrische Gewichtheber zum Verhör beiseite. Er wusste sofort, warum.
    »Hast du in der letzten Zeit deine Mutter getroffen?«
    »Nein«, antwortete er wahrheitsgemäß.
    »Von ihr gehört? Einen Anruf bekommen, wieder mal eine Postkarte?« Sie kontrollierten also immer noch seine Schneckenpost.
    Anscheinend hatten sie sämtliche Postkarten auf ihren Computern gespeichert; außerdem seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort, was erklärte, weshalb sie nicht gefragt hatten, wo er jetzt herkam.
    Er verneinte noch einmal. Dass er nicht log, wussten sie, denn sie hatten ihn an den Nervenimpulsmonitor angeschlossen; sie mussten auch gewusst haben, dass die Frage ihn beunruhigte. Es lag ihm eine Bemerkung auf der Zunge wie: Und wenn, würde ich es euch Kürbisköpfen sicher nicht verraten, aber er war alt genug, um zu wissen, dass er damit nichts erreichte, sondern im Gegenteil in den nächsten Hochgeschwindigkeitszug gesetzt und nach Martha Graham zurückexpediert würde – oder Schlimmeres.
    »Weißt du, was sie so treibt? Mit wem sie zusammen ist?«
    Jimmy wusste es nicht, aber er hatte ein Gefühl, dass die Sicherheitsleute irgendeine Ahnung haben könnten. Allerdings erwähnten sie nichts von der Happicuppa-Demonstration in Maryland und waren also vielleicht doch nicht so gut informiert, wie er befürchtete.
    »Warum bist du hier, mein Junge?« Jetzt fingen sie an sich zu langweilen. Der wichtige Teil war vorbei.
    »Ich besuche für die Thanksgiving-Woche einen alten Freund«, sagte Jimmy. »Einen Freund von der HelthWyzer High. Er studiert hier. Ich bin eingeladen.« Er nannte den Namen und die
    Besuchsgenehmigungsnummer, die Crake ihm gegeben hatte.
    »Was studiert er? Wo ist er eingeschrieben?«
    Transgenik, antwortete Jimmy.
    Sie überprüften seine Angaben auf dem Monitor, runzelten die Stirn, setzten eine halbwegs beeindruckte Miene auf. Dann tätigten sie einen Mobilanruf, als glaubten sie ihm nicht so recht: Wie konnte sich ein Leibeigener wie er anmaßen, die Aristokratie besuchen zu wollen? Aber schließlich ließen sie ihn durch, und da stand Crake vor ihm, in seinen dunklen No-Name-Klamotten, älter und dünner und auch schlauer denn je, auf die Schranke gestützt und grinsend.
    »Hallo, Korknuss«, sagte Crake, und eine Welle der Nostalgie erfasste Jimmy, wie ein plötzlicher Anfall von Heißhunger. Er freute sich so, Crake wieder zu sehen, dass ihm beinahe die Tränen kamen.

    Hunölfe

    Verglichen mit Martha Graham war Watson-Crick ein Palast. In der Eingangshalle stand als Bronzeskulptur das Institutsmaskottchen, die ZinnenSpiege, einer der ersten erfolgreichen GVOs – gentechnisch veränderten Organismen –, die um die Jahrhundertwende in Montreal gemacht worden war: Einer „Ziege war das Garn-Gen der Spinne eingepflanzt worden, und fortan schied sie in ihrer Milch die

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