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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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Zelle forteilend wie Geister, sich auflösend wie Nebel, und er war allein. Zweimal am Tag öffnete sich ein Gitter in der Tür, und ein Tablett wurde hindurchgeschoben. Es gab Essen auf dem Tablett und Wasser im Waschbecken. Der Gefangene trank das Wasser, wusch sich jedoch nicht mehr. Das Wasser schmeckte nach Hustensaft. Er stellte sich selbst Fragen. Woher kommst du? Wohin gehst du? Wie heißt du? Wenn er sich die Frau vorstellte, ging es ihm besser, dann schlechter. Sie hatte ihre Hand auf seine gelegt, und diese Geste hatte etwas schrecklich Intimes und Vertrautes gehabt.
    »Ich werde dich finden«, hatte sie gesagt. »Ich werde dich immer finden.«
    Hier gab es jedoch kein Licht in Wasser. Die Frau war aus der Zelle des Gefangenen so erbarmungslos ausgesperrt wie die Zukunft aus der Vergangenheit. Es gab nur die eine Tür, und die führte nirgendwohin. Er studierte die Flecken an den Wänden, suchte nach Mustern in der Art und Weise, wie sie sich, pulsierenden, lebendigen Dingen gleich, ausstreckten und zusammenschrumpften. Er konnte Gesichter in ihnen sehen, Wolken, Schreibmaschinen, Berge. Er dachte über Türen im Film nach.
    Sie waren wie die fabriques im Parc Monceau. Filme waren konstruierte Landschaften, täuschend echt aus den herausgerissenen Teilen verschiedener Orte zusammengestellt. Wenn sich in einem Film die Außentür eines Gebäudes öffnete, führte sie – in den meisten Fällen – nicht unbedingt in das Gebäude hinein, sondern irgendwo anders hin. Im Film gab es Übergänge, geglättete, nahtlos gemachte zwar, aber dennoch Übergänge, Abkürzungen durch Ort wie durch Zeit. Im Film eine Tür zu öffnen kam dem Aufbrechen eines transdimensionalen Tors gleich: Sie konnte irgendwohin, überallhin führen. Das war eine Erkenntnis, vor der der Gefangene zurückschreckte.
    Immer stärker kristallisierten sich die Stimmen heraus, wie ein Funksignal, das kräftiger wurde. Sie flüsterten, riefen, weinten, lachten. Sie plapperten und brabbelten und murmelten und schrien, ihr Geschwätz erfüllte die Dunkelheit. Er konnte sie nicht von sich fernhalten.
    Und noch mehr Fragen. Die konnte er ebenso wenig von sich fernhalten. »Beschreiben Sie einen Tarnkappenbomber. Beschreiben Sie präzisionsgelenkte Bomben. Wie funktioniert ein drahtloses Netzwerk? Wie sehen Scud-Raketen aus? Was ist ein Nintendo? Was ist Shenzou 5?«
    »Wo ist Mike Longshott?«, fragte der Gefangene. Das rückte mehr und mehr in seinen Blickpunkt, wurde zum Leitstern, an den er die Fetzen seiner selbst anheften konnte.
    »Es gibt keinen Mike Longshott.«
    Doch er wusste, dass sie logen.
    Mike Longshott zu finden gab ihm seinen Lebenszweck zurück. Er fing an, aus den in der Dunkelheit lose herumtreibenden Bruchstücken den Detektiv wieder zusammenzubauen. Er fing an, eine Landschaft auszuarbeiten, eine Vision von fabriques .
    »Wie heißen Sie?«, fragten sie ihn im Verhör. »Wie heißen Sie?«
    »Joe«, flüsterte der Gefangene. »Joe.«
    »Es gibt keinen Joe.«
    Doch er wusste, dass sie logen.
    Dann kam eine Zeit, wo niemand kam und er in der Zelle in Ruhe gelassen wurde. Obwohl die Dunkelheit ein wenig nachließ, waren die Stimmen immer noch da. In der beengten Zelle klangen sie lauter. Mike Longshott, dachte der Gefangene. Und der Gedanke brachte Klarheit mit sich. Er war Detektiv, und das war sein Fall. Er war Detektiv. In der obersten Schreibtischschublade in seinem Büro lag die illegale Billigkopie einer Smith & Wesson, Kaliber 38, und eine Flasche Johnny Walker Red Label, halb leer oder halb voll, je nachdem.
    Die Stimmen flüsterten Rat. Sie waren nicht bereit weiterzuziehen. Er glaubte, in dem Geplapper vertraute Stimmen zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Er dachte an Türen in Filmen. Wenn man in einer erfundenen Landschaft eine Tür öffnete, konnte sie einen führen, wohin man wollte. Doch er hatte Angst, die Tür aufzumachen.

Helligkeit einer gelben Sonne
    In seiner Zelle traf der Gefangene Vorbereitungen. Jetzt wurde er von den Stimmen der Toten begleitet, die ihm etwas zuraunten, ihn vorwärtsdrängten. Am liebsten hätte er sie in den Seiten eines Buchs eingeschlossen. In den Flecken an den Wänden sah er jetzt Gesichter, nichts als Gesichter, die ihn anstarrten. »Longshott«, sagte er laut, den Namen kostend. Die Schatten murmelten Zustimmung. Der Gefangene wusste, was er war, aber nicht, wer. Er starrte die Tür an, und die Tür starrte zurück. Er legte die Hand auf ihre metallene Oberfläche, und sie

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