Osama (German Edition)
Träume, denn er träumte ja nicht mehr. Es waren nur die Fragmente von Schnappschüssen, die er von irgendwo und irgendwann anders gesammelt hatte. Das Flugzeug würde in ein Land über dem Regenbogen fliegen. Die junge Frau stieg gerade ein. Es kam zu einem Streit. Er hatte den breitkrempigen Hut an, den er in Paris gekauft und irgendwo unterwegs verloren hatte. Sie müssen in diese Maschine einsteigen, sagte er immer wieder. Sie müssen in die Maschine einsteigen. Sie rief seinen Namen, aber es war nicht sein Name. Vielleicht nicht heute, sagte er dauernd. Vielleicht nicht heute.
Manchmal ging die Tür auf, und sie kamen herein. Anfangs kämpfte er gegen sie, doch sie überwältigten ihn immer, ohne Probleme, und dann gab es einen kurzen kalten Schmerz im Nacken, da, wo die Halsschlagader lag, und dann die Taubheit. Die meiste Zeit wusste er nicht, was sie taten. Manchmal zogen sie ihn aus, behandschuhte Hände stießen und stupsten und vermaßen ihn. Manchmal zogen sie ihn aus und fotografierten ihn. Manchmal saß er von neuem auf dem Stuhl und wurde befragt. Der Grauhaarige war wieder da, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, das Gesicht nur in Umrissen erkennbar. Er stellte Fragen über das, was die Leute im Hotel Kandahar die Osamadichtung genannt hatten. Es war wie ein nicht enden wollendes Quiz über Mike Longshotts Romane. Der Gefangene sagte: »Ich weiß es nicht«, bis es ein Mantra wurde, das ihn aus der Gefangenschaft befreite, so dass zwar sein Körper noch da, sein Geist jedoch weit weg war, über dem Abgrund schwebend, wo die nächste Welt war, oder die übernächste, oder die überübernächste. »Warum verhaften Sie ihn nicht?«, fragte er einmal.
»Wen verhaften?«, sagte der Mann mit dem grauen Haar.
»Longshott.«
Der Mann sagte etwas von überschaubaren Risiken und von einem gesteuerten Informationsfluss. Daraus schloss der Gefangene, dass sie nicht wussten, wo Longshott sich aufhielt. »Wir könnten seinen Verleger ausschalten«, bemerkte der Mann vom KGG. Manchmal war es, als säße er im Kopf des Gefangenen. Der sagte: »Warum tun Sie’s nicht?«
»So ist er uns von größerem Nutzen«, antwortete der Grauhaarige.
Manchmal steckten sie Nadeln in ihn hinein, nahmen ihm Blut ab. Manchmal befestigten sie Elektroden an seinen Schläfen, an seiner Brust, nahmen seinen Puls, maßen seinen Herzschlag, seine Hirnströme, die phrenologischen Proportionen seines Schädels.
»Sagen Sie mir die Wahrheit, Doc«, sagte der Gefangene einmal. »Und bitte Klartext. Überlebe ich das hier?«
Der Grauhaarige schüttelte mit langsamen, präzisen Bewegungen den Kopf. »Sie sind bereits tot«, sagte er müde. »Nur wissen Sie es noch nicht.«
Doch der Gefangene wusste es. Er driftete in die Schwärze ab, die nicht Schlaf war, und während er das tat, träumte er von Türen in Filmen.
Türen in Filmen
Dauernd stellten sie ihm Fragen. Aus denen der Gefangene nicht klug wurde. Die Fragen lauteten: »Wie funktioniert ein Handy? Was ist ein iPod? Was ist Area 51?« Die Antworten auf diese Fragen wusste der Gefangene nicht. Sie fragten ihn: »Wie stellt man einen Computer von der Größe eines Aktenkoffers her? Was sind Flashmobs, und wie kontrolliert man sie? Was bedeutet DRM? Was ist Molekularküche? Kerntechnik vielleicht?«
Um diesen letzten Punkt gab es eine gewisse Verwirrung, aber der Gefangene konnte sie nicht aufklären.
»Was ist Star Wars?« Dieser Begriff hatte sie sehr beunruhigt.
Ihren Worten entnahm er, dass er nicht der erste Flüchtling war, der auf diese Weise verhört wurde. Er hatte jedoch keine Antworten.
Nicht einmal – erst recht nicht – für sich selbst.
Wer war er? Woher war er gekommen? In zunehmendem Maße spürte der Gefangene, wie diese Welt an den Rändern verschwand, während er in der großen friedlichen Dunkelheit dahintrieb. Mehr und mehr beschlich ihn das Gefühl, dass es noch andere Stimmen gab, die Stille durchbrochen durch leises Gemurmel, brabbelnde, singende Stimmen, die Wörter in die Dunkelheit ätzten, als könnten sie sie für immer dort lassen.
Doch jedes Mal zerrten sie ihn wieder zurück, indem sie seine Schweißabsonderung, seine Bluteigenschaften, seine Pupillen, Haare, Fingernägel, seine innere und äußere Körpertemperatur ermittelten und ihm weitere Fragen stellten.
»Was ist ein Modem? Wer ist James Bond? Was ist ein Smart? Was ist Al-Dschasira?«
Auch das hatte sie sehr beunruhigt.
Manchmal waren sie weg, einfach so, von den Rändern seiner
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