Oscar
Frau zu stellen. Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass es vieles gibt, was die Angehörigen nicht in Anwesenheit des vermutlichen Demenzpatienten sagen wollen.
»Hat sie schon irgendetwas Gefährliches getan?«, fragte ich.
»Was meinen Sie damit, Doktor?«
»Hat sie zum Beispiel den Wasserhahn an der Badewanne nicht zugedreht oder den Herd angelassen?«
»Na ja, sie hat ein paar Mal den Hackbraten anbrennen lassen, aber eine große Köchin war sie noch nie.«
Er setzte mühsam ein mildes Lächeln auf.
»Hatte sie einen Autounfall oder zumindest einen kleinen Blechschaden?«
Patienten mit Demenz verursachen extrem viele Autounfälle, von denen allerdings nur wenige zur Anzeige kommen. Frank schüttelte den Kopf.
»Hat sie sich merkwürdig verhalten, oder ist Ihnen aufgefallen, dass sich ihr Verhalten geändert hat?«
»Sie ist ein wenig argwöhnischer als früher. Neulich war ich mit ein paar Freunden in einem Restaurant. Kaum war ich wieder zu Hause, da habe ich Ruth dabei erwischt, wie sie meine Brieftasche durchsucht hat. Als ich sie gefragt habe, was sie da tue, hat sie mir vorgeworfen, ich würde mich mit einer anderen Frau treffen. Doktor, Sie müssen wissen, dass ich so etwas
niemals
tun würde!«
Ich nickte und sagte Frank, er solle sich setzen und warten. Dann ging ich ins Zimmer zurück, um die Untersuchung von Mrs.Rubenstein abzuschließen. Sie hatte sich inzwischen ausgezogen, war in den zur Verfügung gestellten Papierkittel geschlüpft und saß wartend auf der Liege.
»Doktor, ich finde wirklich, es geht mir gut.«
Sie sah mich forschend an, ob ich wohl eine gegenteilige Meinung hätte. Ich habe allerdings gelernt, mich in solchen Fällen nicht zu verraten. Wenn ich Poker spielen würde, könnte ich wahrscheinlich eine Menge Geld gewinnen.
»Was hat mein Mann Ihnen da draußen eigentlich erzählt?«, fragte sie. »Ich weiß gar nicht, wieso er sich solche Gedanken um mich macht.«
Ich lächelte. »Er liebt Sie eben, Mrs.Rubenstein, und ist um Ihre Gesundheit besorgt. Übrigens, wie lange sind Sie schon verheiratet?«
Sie sah mich an und strahlte.
»Ach, viel zu lange, Doktor! Wir haben uns während des Kriegs kennengelernt, noch drüben in Europa.«
»Ach ja? Wann war das – vor dreißig, vierzig oder fünfzig Jahren?« Damit setzte ich sie unter Druck, eine genaue Zahl zu nennen.
Sie zuckte die Achseln. »Ach, das ist schon zu lange her, Doktor, viel zu lange!«
Wieder lächelte ich sie an und fragte mich dabei, ob ich wohl auch irgendwann an einen Punkt kommen würde, an dem ich mich nicht mehr erinnerte, wie lange ich schon verheiratet war. Ruths Versuch, mit Humor zu reagieren, war nur eine List, um die Tatsache zu verbergen, dass sie in Wirklichkeit keine Ahnung hatte. Sie wusste nicht mehr, ob sie vor zehn oder vor hundert Jahren geheiratet hatte.
»Was Ihr Gedächtnis angeht, Mrs.Rubenstein«, sagte ich, »muss ich gestehen, dass ich manche der Sorgen Ihres Mannes teile.«
Sie schüttelte den Kopf und legte beruhigend die Hand auf meine.
»Ach, Doktor, ich bin einfach müde. Es gibt so viel, wor-an ich denken muss.«
»Das mag schon sein, Ruth, aber ich überlege, ob das alles ist. Wären Sie einverstanden, wenn wir noch einige weitere Untersuchungen machen?«
»Aber, Doktor, wozu soll das denn gut sein? Was wollen Sie eigentlich untersuchen?«
Nun musste ich mich durchsetzen.
»Ruth, es wäre mir wirklich lieber, wenn Sie mir erlauben, noch ein paar Untersuchungen durchzuführen.«
Sie zuckte die Achseln und stimmte widerstrebend zu. »Wenn Sie es wirklich für nötig halten …«, meinte sie.
»Ruth, wie lange macht Ihr Mann sich nun schon Sorgen um Ihr Gedächtnis?«
Sie ging sofort in die Defensive.
»Ich weiß nicht, Doktor. Er sagt mir ständig, mein Gedächtnis sei nicht mehr so gut wie früher. Tja, natürlich ist es das nicht mehr!« Sie deutete mit dem Finger auf sich und lächelte. »Sehen Sie mich doch an: Ich bin eine alte Dame!«
Ich lachte über ihre Offenherzigkeit. Auf jeden Fall hatte sie noch Sinn für Humor. Aber abgesehen davon handelte es sich um einen Irrglauben, denn Alter hat in Wirklichkeit überhaupt nichts mit der Gedächtnisleistung zu tun, und wenn damit Probleme auftreten, dann handelt es sich
nie
um einen Teil des normalen Alterungsprozesses. Man nimmt zwar gemeinhin an, es gäbe einen Zusammenhang, weil im Alter häufiger entsprechende Probleme auftreten, aber eine Gedächtnisschwäche ist
immer
abnormal und sollte behandelt
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