Oscar
kleine Weile schweigend dagesessen hatten, brach ich schließlich den Bann, indem ich mich erkundigte, ob es noch Fragen gebe. Als beide den Kopf schüttelten, verließ ich das Sprechzimmer und ging auf mein Büro zu.
»Doktor!«
Frank war mir auf den Flur gefolgt, um mir die Frage zu stellen, die in solchen Situationen immer kommt.
»Wie lange hat sie noch?«
»Ganz ehrlich, Mr.Rubenstein, das weiß ich nicht.«
»Aber Doktor, Sie haben doch sicher eine Ahnung, wie viel Zeit sie noch hat!«
Unter Druck gesetzt, stellte ich eine Vermutung an.
»Die Demenz befindet sich noch in einem relativ frühen Stadium. So, wie das Gedächtnis Ihrer Frau momentan funktioniert, nehme ich an, dass ihr etwa drei bis fünf Jahre bleiben, bis sie die Fähigkeit einbüßt, für sich selbst zu sorgen.«
Diese Antwort quittierte Frank mit einem Blick, der Ungläubigkeit ausdrückte, bevor diese sich in Zorn verwandelte. Es war, als würde er mich für die Krankheit verantwortlich machen statt für die Diagnose.
Am liebsten hätte er den Boten, der die schlechte Nachricht gebracht hatte, wohl mundtot gemacht.
Ich liebe meinen Beruf, habe ich oben geschrieben, aber es gibt auch Tage, da könnte ich ihn hassen.
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Eine Katze führt unweigerlich zu einer zweiten.
Ernest Hemingway
5
I m Gemeinschaftsraum unten hängt über dem Klavier ein großes Porträt des philanthropisch engagierten Industriellen Henry Steere ( 1830 – 1889 ). Der Raum ist sehr gemütlich, besonders wenn nachmittags das Sonnenlicht durch die Fenster fällt. Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihn zum ersten Mal betrat und Klaviermusik hörte. Es war ein Prélude von Chopin, und als ich durch die Tür kam, hatte ich erwartet, dass ein Patient oder ein Besucher an den Tasten saß und übte. Auf der Bank vor dem Instrument hockten jedoch nur zwei Katzen – Billy und Munchie, wie ich später erfuhr – und blickten mir entgegen. Der Anblick der beiden Tiere und die Musik, die aus dem Nichts zu kommen schien, war regelrecht surreal, bis mir klar wurde, dass es sich um ein automatisches Klavier handelte.
Inzwischen kam ich regelmäßig hierher, wenn ich ein paar Minuten Pause brauchte, so auch an einem Tag nicht lange nach dem Tod von Mrs.Sanders. Ich hatte es mir in einem der bequemen Sessel gemütlich gemacht und genoss die Musik. Sie war ein angenehmer Kontrast zu der oft harschen Realität unseres Heims, das für die meisten unserer Patienten das letzte Zuhause darstellte. Demselben Zweck wie die Musik dienten die hohen, hellen Fenster und ein ganzes Rudel von Katzen.
Wie gerufen kam einer der beiden Kater herbei, die im Erdgeschoss wohnten, und rieb sich an meinen Beinen. Es war Munchie, ein recht ungewöhnlich aussehender Bursche. Sein Fell sah aus wie ein nicht ganz gelungenes ab-straktes Gemälde, grau-schwarz mit einzelnen kastanienbraunen Flecken. Mit lautem Miauen forderte er Aufmerksamkeit. Ich hob die Hand und kraulte ihn behutsam hinter den Ohren. Als hätte ich damit einen Schalter umgelegt, begann er zu schnurren und rhythmisch mit dem Kopf an mein Bein zu stoßen.
»Eigentlich bist du ein netter Kerl«, sagte ich. »Immerhin zeigst du mir nicht die Krallen wie ein gewisser Artgenosse.«
Munchie blickte mich von unten her an, dann ließ er sich auf meinen Füßen nieder, um ein Nickerchen zu halten. Wenig später erschien sein Gefährte Billy und sprang mir auf den Schoß, wo er sich zweimal im Kreis drehte, bevor er sich zu einer schwarzweißen Fellkugel zusammenrollte. Dann hob er den Kopf und sah mich an, als wollte er sagen: »Du hast doch nicht etwa gemeint, du kommst davon, ohne mir auch ein paar Streicheleinheiten zu geben, oder?« Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und runzelte die Stirn. Woher wussten Katzen eigentlich immer, dass man gerade keine Zeit hatte?
»Tut mir leid, Jungs«, sagte ich und stand vorsichtig auf. »Ich muss wieder an die Arbeit.« Munchie flitzte davon, während Billy von meinem Schoß sprang und mich mit einer verächtlichen Miene ansah, wie nur Katzen sie zustande bringen. Schuldbewusst bückte ich mich, um ihn zu streicheln, aber schon nach wenigen Sekunden verlor er das Interesse und stolzierte davon, um seinen Gefährten zu suchen. Katzen sind eben launisch wie das Wetter, dachte ich.
Von der Tür aus warf ich einen Blick zurück auf Billy und Munchie, die inzwischen damit beschäftigt waren, sich zu jagen wie Kinder, die Fangen spielten. Mein Kommen und Gehen war ihnen offensichtlich
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