Oscar
völlig egal. Sie befanden sich wahrhaft im Hier und Jetzt, während mein Leben aus Telefonaten, Terminen, Besprechungen und anderen Verpflichtungen bestand. Verglichen damit kam mir die Existenz einer Katze momentan ziemlich angenehm vor.
Als ich den Aufzug betrat, warf ich reflexartig einen Blick in die Ecke, als hätte dort noch Henry liegen können, der allererste Kater, der hier eingezogen war. Es sind Henry und seine Nachfolger, durch die Steere House sich von anderen Pflegeheimen unterscheidet, denn wir haben eine ganze Menagerie aus Katzen, Kaninchen und Vögeln.
Früher war so etwas undenkbar. Vor 1980 gab es das, was man heute als tiergestützte Therapie oder auch einfach Tiertherapie bezeichnet, noch nicht. Tiere hatten keinen Platz in Institutionen des Gesundheitswesens. Warum sollte man ein »schmutziges« Tier in eine sterile Umgebung bringen? Dann jedoch begannen einige Wissenschaftler die These zu entwickeln, dass der Kontakt von Menschen und Tieren eine positive Wirkung auf die körperliche und psychische Gesundheit des Menschen haben kann. Einschlägige Forschungsprojekte stützten die Vermutung. Besonders erfolgreich ist dieser Ansatz bei Bewohnern von Pflegeheimen, die sich dadurch weniger deprimiert und einsam fühlen, egal, ob sie an Demenz leiden oder nicht.
Schon intuitiv leuchtet das sofort ein. Die meisten Menschen lieben Tiere. Da liegt es nahe, dass sie auch in ihrem letzten Zuhause welche bei sich haben wollen.
Ich würde gern behaupten, man habe die Tiere in unserem Heim aufgrund dieser Forschungsergebnisse angeschafft, aber in Wirklichkeit lag es wohl nur an einem kleinen Burschen namens Henry. Er war gewissermaßen der erste Bewohner des Hauses, und am Anfang hat man ihn nicht besonders freundlich aufgenommen – im Gegenteil, man hat sich alle Mühe gegeben, ihn loszuwerden.
Seit Steere House vor über einem Jahrhundert gegründet wurde, hat es mehrere Verwandlungen durchgemacht, um sich den Bedürfnissen seiner Bewohner anzupassen. Als das heutige Gebäude errichtet wurde, beobachteten die Handwerker, dass ein streunender Kater sich aufs Grundstück geschlichen und in dem unvollendeten Bau häuslich niedergelassen hatte. Gelegentlich stibitzte er ihnen etwas von ihrem Imbiss, wenn sie nicht aufpassten. Als die Arbeiten abgeschlossen waren, hatte man ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen und vergessen. Kurz nach der Einweihung kehrte der Kater jedoch wieder, um das Ergebnis in Augenschein zu nehmen. Eines frühen Morgens schlich er sich ins Haus, fand es gemütlich und ließ sich auf einem Sessel nieder. Zuerst versuchte das Personal, ihn wegzuscheuchen, aber das hatte keinen Zweck. Jeden Tag marschierte er ungerührt wieder durch die automatische Glastür, als wäre er dazu berechtigt. »Ich war als Erster hier«, schien er mit seinem in die Luft gereckten Schwanz zu sagen.
Wie bei den Auseinandersetzungen, die ich gelegentlich mit Oscar bezüglich der Funktion bestimmter Arbeitsflächen hatte, zog die menschliche Seite den Kürzeren. Am Ende siegte die Beharrlichkeit des Katers, und man gab es auf, ihn aus dem Haus zu scheuchen. Eine Sitzung wurde einberufen, bei der die Leitung des Hauses beschloss, den unerwünschten Gast zu akzeptieren. Allerdings brauchte er nun einen Namen. Es schien angebracht, ihn nach Henry Steere, dem Gründer der Institution, zu taufen, dessen Porträt genau auf den Sessel herabblickte, den Henry in jenen Tagen als Lieblingsplatz gewählt hatte.
Henry blieb also nicht nur da, er wurde in den folgenden zehn Jahren auch zum Liebling von Mitarbeitern wie Patienten. Bis an sein Lebensende war er dafür bekannt, gerne mit dem Aufzug zu fahren, immer auf der Suche nach einem gemütlichen Ort, an dem er sich in einem warmen Fleck Sonnenlicht niederlassen konnte. Wie alle anderen Bewohner des Hauses holte ihn jedoch schließlich das Alter ein. In seinem letzten Lebensjahr verlor er allmählich seine Sehkraft, weshalb er ständig mit dem Kopf an Wände oder geschlossene Türen stieß. Auch Henrys Verhalten wurde immer unberechenbarer. Wenn er aus dem Haus ging, verirrte er sich manchmal. Dann wurde ein Suchtrupp zusammengestellt, um den Kater, den man anfangs weggescheucht hatte, wieder zurückzuholen. An manchen Tagen schließlich tappte Henry einfach in den Aufzug, rollte sich in der Ecke zusammen und fuhr stundenlang auf und ab.
»Wissen Sie eigentlich, dass in der Ecke Ihres Aufzugs gerade eine Katze sitzt?«, fragten die Besucher.
Dann reagierte das
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