Oscar
einzuzeichnen, dass die Uhr auf zwei Uhr fünfundvierzig steht.«
Meine Bitte traf auf ein besorgtes Lächeln. Ruths Blick wanderte zu der über der Tür angebrachten Uhr, die sie kurz betrachtete, bevor sie mir Antwort gab.
»Doktor, ich weiß nicht, was diese ganzen Fragen mit mir zu tun haben. Es geht mir gut, wirklich! Ich habe keine Ahnung, wovon mein Mann eigentlich spricht.«
»Mrs.Rubenstein, es hört sich vielleicht töricht an, aber dieser Test kann mir tatsächlich helfen herauszufinden, ob eventuell etwas nicht ganz in Ordnung ist. Die Zeiger sollen auf zwei Uhr fünfundvierzig stehen. Zeichnen Sie sie bitte ein?«
Ruth musterte mich.
Ich weigerte mich, klein beizugeben.
Sie wandte sich wieder der Zeichnung zu und schüttelte den Kopf, als wäre sie ganz frustriert von meiner völlig irrelevanten Bitte. Ich merkte, dass sie die Ziffern betrachtete.
»Wie viel Uhr soll es sein?«
»Zwei Uhr fünfundvierzig.«
Innerhalb der folgenden Minute wurde die geistige Anstrengung immer deutlicher. Ruth tippte mit dem Kugelschreiber aufs Papier. In unregelmäßigem Abstand brach sie mit nervösem Lachen das Schweigen.
»Ich war nie besonders gut in Mathematik«, verkündete sie nach einer Weile. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu erklären, dass die Aufgabe weniger mit Mathematik zu tun hatte als mit visuell-räumlichen Fähigkeiten und den so genannten exekutiven Funktionen, mit denen wir unser Verhalten steuern. Der Uhrenlesetest ist eine Standarduntersuchung, denn wenn man ihn schafft, dann stehen die Chancen ausgezeichnet, dass man nicht an Alzheimer erkrankt ist. Er liefert zudem gute Hinweise darauf, wie man sich beim Autofahren verhält. Eigentlich müsste er für alle Führerscheininhaber verpflichtend sein.
Geduldig wartete ich, bis Ruth fertig war. Nach mehreren Minuten zeichnete sie den kleinen Zeiger schließlich so ein, dass er auf die Zwei zeigte. Anschließend platzierte sie – wie viele andere Patienten mit kognitiver Beeinträchtigung – den Minutenzeiger zwischen die Vier und die Fünf statt auf die Neun.
Überzeugt davon, dass sie auch diese Prüfung mit Bravour bestanden hatte, sah Ruth mich ausgesprochen zufrieden an. Als ich einen Blick auf ihren Mann warf, sah ich, dass er ihre Begeisterung nicht teilte. Eine Träne war ihm ins Auge getreten, die er rasch wegwischte, bevor sie an seiner Wange herunterrinnen konnte.
Ohne auch nur ein Wort über die erbrachte Leistung zu verlieren, schloss ich sofort eine Reihe weiterer Gedächtnistests an. Von der mangelnden Rückmeldung schien Ruth vorübergehend enttäuscht zu sein, aber in einer solchen Situation konnte ich nicht viel sagen – zumindest nichts, was die Patientin hören wollte.
»Also, Mrs.Rubenstein, ich sage jetzt drei Worte. Bitte prägen Sie sich die gut ein.«
Die Worte, die ich sagte, waren Apfel, Buch und Mantel. Anschließend bat ich Ruth, sie zu wiederholen. Sie erinnerte sich an zwei davon. Nach fünf Minuten hätte sie sich höchstwahrscheinlich an keines mehr erinnert.
Es folgte die Bitte, ein Wort zu buchstabieren: »Lampe«. Das tat Ruth rasch und korrekt. Auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln, das ausdrückte:
Ich habe Ihnen ja gesagt, dass mit mir alles in Ordnung ist.
»Könnten Sie das Wort nun bitte rückwärts buchstabieren?«, fragte ich.
Der Blick, mit dem sie mich durchbohrte, ähnelte jenem, den vorher ihr Mann zu spüren bekommen hatte.
»Doktor, ich verstehe nicht, wieso das alles notwendig ist. Mir geht es blendend!«
Ich wiederholte meine Bitte, worauf sie sich alle Mühe gab, am Ende jedoch lediglich in der Lage war, zwei der fünf Buchstaben korrekt zu platzieren.
Im Rahmen der nächsten Aufgabe sollte Ruth innerhalb einer Minute die Namen möglichst vieler vierbeiniger Tiere niederschreiben. Normalerweise schaffen Patienten bei diesem Test der exekutiven Funktionen mehr als zehn Namen. Mein dreijähriger Sohn könnte wahrscheinlich doppelt so viele Tiere nennen, aber Ruth notierte nur sechs und schrieb außerdem gleich zweimal »Katze«.
Nach einigen weiteren Tests erklärte ich Frank, ich müsse ihn jetzt in den Wartebereich begleiten, um bei seiner Frau anschließend eine gründliche körperliche Untersuchung durchzuführen. Er wollte eigentlich dableiben, gehorchte mir jedoch widerwillig, als Ruth ihm beruhigend zulächelte.
»Ist schon in Ordnung, Schatz«, sagte sie. »Es gehört sich so.«
Im Flur nutzte ich die Gelegenheit, Frank einige direkte Fragen zum Zustand seiner
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