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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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überreichte mir den Schuh.
    In Wirklichkeit wollte ich Sauls Tochter die Meinung sagen. Ich wusste wohl, wie schwer es für sie war, mit dem Zustand ihres Vaters umzugehen, aber es gab Grenzen, und Barbara hatte gleich mehrere überschritten.
    Als ich ins Zimmer kam, lag sie auf dem Bett und hatte den Kopf in den Schoß ihres Vaters gelegt, so wie es mein kleiner Sohn manchmal tut, wenn wir zusammen fernsehen.
    »Ich habe den Hausschuh«, sagte ich. Barbara hob den Kopf und drehte sich zu mir um. Ihre Augen waren gerötet, die Wimperntusche war verschmiert. Während sie sich aufsetzte, wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Bluse übers Gesicht.
    Ich trat zum Nachttisch und legte den Schuh darauf. »Wissen Sie«, sagte ich, »vorhin waren Sie ganz schön streng mit dem Personal.«
    Sie brach in Tränen aus. Es war kein Schluchzen, sondern eine wahre Flut.
    Mir war es peinlich, sie so aus der Fassung gebracht zu haben. Ich griff nach der Schachtel Papiertaschentücher, die auf dem Tisch neben mir stand, und streckte sie Barbara hin.
    »Doktor, es tut mir so leid, dass ich mich so verhalten habe«, sagte sie, während sie sich die Augen abtupfte. »Können Sie das bitte auch Lydia sagen? Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Wie dumm von mir!«
    »Bei Lydia sollten Sie sich besser selbst entschuldigen. Übrigens gehört sie zu unseren besten Helferinnen. Sie besucht fünfmal pro Woche einen Abendkurs, um ihr Englisch zu verbessern.«
    Barbara nickte. »Es ist einfach so, dass ich hierherkomme und überhaupt nicht weiß, was ich tun soll. Sehen Sie ihn sich doch an!« Sie deutete auf ihren Vater. »Ich kann nicht mal sagen, ob er weiß, dass ich da bin.«
    »Indem Sie jetzt einfach bei Ihrem Vater sind, tun Sie alles für ihn, was Sie tun können.«
    Sie nickte. »Vom Verstand her begreife ich das ja, aber vom Herzen her nicht.«
    Den Satz hatte ich schon oft gehört. Intellektuell begriff Barbara, was mit ihrem Vater geschah, aber wenn sie ihn betrachtete, sah sie immer noch einen der beiden vertrauten Menschen, von denen sie aufgezogen worden war.
    »Sehen Sie doch!«, wiederholte sie. »Er sitzt da und hat einfach nur diesen dummen, leeren Ausdruck auf dem Gesicht.« Sie war verzweifelt, das war offensichtlich, sonst hätte sie so etwas nicht gesagt.
    »Mein Vater weiß nicht mehr, wer ich bin«, fuhr sie fort. »Früher war er so ein toller Mensch. In meiner Kindheit war er unheimlich wichtig für mich. Jeden Tag hat er mich zu Fuß zur Schule gebracht, und als ich älter war, konnte ich ihn jederzeit anrufen, wenn ich Probleme im Beruf hatte. Sogar wenn es mit meinem Freund schlecht gelaufen ist, habe ich mich bei ihm ausgeweint. Und was bin ich jetzt noch für ihn?«
    »Ms. Strahan, gibt es vielleicht jemanden, mit dem Sie darüber sprechen können? Was Sie gerade erleben, ist eine Extremsituation. Mit so etwas muss niemand alleine fertig werden. Ich denke da an eine Selbsthilfegruppe, eine Therapeutin oder einen Pfarrer.«
    »Manchmal spreche ich mit meinem Sohn darüber, wenn er gerade da ist. Das hilft ein wenig, denke ich.« Ein mütterliches Lächeln huschte über ihre Lippen. »Er kümmert sich so lieb um seinen Großvater. Wenn er ihn besucht, erzählt er ihm Witze oder liest ihm den Sportteil der Zeitung vor. Früher sind die beiden zusammen zum Baseball gegangen.«
    Sie deutete mit dem Kinn auf ein Foto an der Wand, das mir noch nicht aufgefallen war. Saul und ein Junge saßen auf der Tribüne in Fenway Park, dem Stadion der Red Sox. »Er lässt sich von dem Ganzen überhaupt nicht abschrecken … von diesem Ort und von dem Zustand meines Vaters. Manchmal bringt er ihn sogar zum Lächeln.«
    Auf Barbaras Gesicht trat wieder eine tiefe Frustration. »Aber
ich
schaffe das nie!«
    Ich nickte nur und blieb schweigend eine kleine Weile bei ihr sitzen. Manchmal besteht meine Aufgabe darin, einfach nichts zu sagen.
    »Es ist so, Doktor«, fuhr Barbara schließlich fort, »dass ich ständig solche Schuldgefühle habe. Jedes Mal, wenn ich hier war, weine ich auf der ganzen Fahrt nach Hause.« Sie hob die Schultern. »Ich weiß gar nicht, wie viele Blusen ich schon ruiniert habe, weil meine Wimperntusche darauf getropft ist. Eigentlich dürfte mir das jetzt nicht mehr passieren.«
    Als ich ihre Bluse betrachtete, sah ich, dass diese wohl auch nicht mehr zu gebrauchen war.
    »Doktor, ich weiß, Sie werden mir widersprechen, wenn ich will, dass mein Vater weiter umfassend behandelt wird«, sagte sie. Als ich

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