Oscar
Statt Tränen oder traurigen Gesichtern sah ich nur Heiterkeit und warmes Lächeln. Es war ein wenig wie ein Familientreffen, das ich nicht stören wollte. Erst als Rita mich sah und grüßend die Hand hob, kam ich näher.
»Hallo, Rita«, sagte ich. »Gut sehen Sie aus. Sie natürlich auch, Annette.«
Wir tauschten Nettigkeiten aus, während wir uns auf den Weg zur Bibliothek machten, um uns dort ungestört unterhalten zu können.
»Es ist bestimmt ein merkwürdiges Gefühl, wieder hier zu sein«, sagte ich irgendwann.
Rita und Annette nickten, erwiderten jedoch nichts, während wir den langen Flur entlanggingen. Mit einem Mal schienen sie in ihren Gedanken verloren zu sein, als wäre jede Tür, an der sie vorbeikamen, der Einlass zu einer bestimmten Erinnerung.
»Viele Leute wollen einfach nicht loslassen«, sagte Rita unvermittelt. Inzwischen waren wir in der Bibliothek, und sie sah sich ein wenig zerstreut in diesem Raum um, in dem sie sich jahrelang gern aufgehalten hatten.
»Was meinen Sie, warum das so ist?«, fragte ich. Das war meiner Erfahrung nach genau das, womit die meisten Angehörigen am stärksten zu kämpfen hatten, und ich wollte erfahren, wie Rita das empfand.
»Weil man sich etwas ganz Unmögliches wünscht«, sagte sie. »Man will seine Eltern zurückhaben – die Menschen, die einem bei den Hausaufgaben geholfen und den Weihnachtsbaum geschmückt haben. Aber das geht nicht.«
Das zu wissen und sich damit abzufinden, ist tatsächlich das Schwierigste. Eine Beziehung zwischen zwei Menschen besteht hauptsächlich aus unsichtbaren Dingen: aus Erinnerungen, gemeinsamen Erlebnissen, Hoffnungen und Ängsten. Wenn eine der beiden Personen in ihrer Demenz versinkt, bleibt die andere alleine zurück wie jemand, der eine Schnur ohne Drachen in der Hand hält. Erinnerungen können viel Kraft geben, aber die unsichtbare Substanz der Beziehung ist verloren, während ungeklärte Probleme bleiben: nie beigelegte Streitigkeiten, freundliche Worte, die man nie ausgesprochen hat, andere ungesagte Dinge. Sie sind wie ein Splitter unter der Haut, den man nicht sieht und der trotzdem weh tut. Solange sie nicht zum Vorschein kommen, ist es unmöglich, mit dem langsamen Verlust des geliebten Menschen fertig zu werden.
»Und wie schafft man es, besser mit so einer Krankheit umzugehen?«, fragte ich.
Diesmal kam die Antwort von Annette. »Es braucht Zeit. Zuerst aber geht es darum, den Kranken abzulenken und in die Irre zu führen.«
Das hatte ich so noch nie gehört. »Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
»Ich will Ihnen ein Beispiel erzählen«, sagte Annette. »Einige Jahre nachdem man bei meinem Vater Demenz diagnostiziert hatte, rief er einmal mitten in der Nacht bei mir an. Ich habe ihm gesagt, es sei schon spät und er solle sich wieder ins Bett legen. Aber er hatte Angst. ›Da liegt eine fremde Frau neben mir‹, sagte er. ›Bitte komm und hol mich heim.‹«
Annette schüttelte den Kopf. »Fast eine Stunde saß ich am Telefon und habe versucht, ihm klarzumachen, dass er mit der Frau in seinem Bett verheiratet war. Schließlich habe ich es geschafft, ihn zu überzeugen, aber …«
»Von da an wurde es immer schlimmer«, warf Rita ein.
»Genau«, sagte Annette, »denn solche Telefonanrufe kamen immer häufiger. Ich gebe es nicht gerne zu, aber am Anfang bin ich wohl etwas zornig geworden.«
Sie machte eine nachdenkliche Pause und lächelte dann. »Na schön, ich bin sogar sehr zornig geworden! Wie oft kann man wohl gelassen sagen, dass es sich bei dieser ›fremden Frau‹ um die eigene Mutter handelt? Es war gleichermaßen traurig und frustrierend, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass man mit diesen ständigen Wiederholungen am besten umgeht, indem man von der Sache ablenkt, statt Erklärungen zu liefern. Ich habe also nicht mehr versucht, meinen Vater davon zu überzeugen, dass diese Fremde seine Frau war, sondern habe einfach das Thema gewechselt – und schon war alles in bester Ordnung.«
»Bei unserer Mutter war es ähnlich«, sagte Rita. »Als sie hier ankam, hat sie das Heim immer noch als den Ort identifiziert, an dem sie unseren Vater besucht hat, bevor er starb. Das war einer der Gründe, warum es ihr hier von Anfang an gefallen hat, denn intuitiv kannte sie alles – die Flure, die Zimmer und natürlich die Katzen!«
»Besonders Maya hatte sie sehr ins Herz geschlossen«, fügte Annette hinzu und grinste. »Oscar weniger.«
»Außerdem kannte sie noch viele vom Personal, oder
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