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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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es einfach nicht, dass sie sich rasch genug in die Realität fügen.«
    »Wie steht es denn mit Barbara Strahan?«, fragte ich. »In welche Kategorie fällt die?«
    »Wahrscheinlich fühlt sie sich einfach schuldig.« Nachdenklich blickte Mary vor sich hin.
    »Wissen Sie, David«, sagte sie dann, »Saul hat diese Hausschuhe im letzten halben Jahr wahrscheinlich ohnehin kein einziges Mal getragen. Aber wenn wir das Ding nicht augenblicklich finden, wird Barbara sich bei der Leitung über mich beschweren.«
    »Haben Sie versucht, ihr zu erklären, wie es wirklich steht?«
    »Das geht nur zum einen Ohr rein und zum anderen wieder hinaus.«
    »Manchmal kann ich mir kaum vorstellen, wie Sie das alles schaffen«, sagte ich. »Wir Ärzte sind wenigstens nicht ständig da.«
    »Ach, mit den Angehörigen, die sich schuldig fühlen wie Barbara, kann man eigentlich besser umgehen als mit manchen anderen. Man muss sich einfach eine dicke Haut wachsen lassen. Wenn sie uns anbrüllen, geht es normalerweise bloß um irgendwelche Kleinigkeiten, und die meisten beruhigen sich irgendwann. Wahrscheinlich kommt Barbara nachher sogar an, um sich zu entschuldigen, bevor sie nach Hause fährt. Manche Angehörige sind schlimmer.«
    »Noch schlimmer?«, fragte ich.
    »Tja, wie gesagt, gibt es Angehörige, die Angst vor der Krankheit und vor dem, was sie bewirkt, haben. Das verstehe ich schon, aber das sind meist jene, von denen die Situation am stärksten geleugnet wird. Die kommen an und hinterfragen praktisch alles. Wenn wir zum Beispiel die Diät eines Patienten ändern, stellen sie tausend Fragen, weshalb. Solche Fälle sind schlimmer, weil einem die Angehörigen unheimlich leidtun. Wenn sie endlich begreifen, was da mit ihrer Mutter oder ihrem Vater geschieht, sind sie am Boden zerstört.«
    Mary seufzte erneut.
    »Es tut mir leid, dass Sie hier drin nicht rauchen dürfen«, sagte ich.
    »Das ist geschwindelt«, sagte sie und grinste. »Ja, und dann sind da noch die Zornigen, die uns die Schuld an allem geben. Erst letzte Woche hat mich eine Frau gefragt, weshalb ihre Mutter einen Gehwagen benutzen muss. Weil sie schon mehrfach hingefallen ist, habe ich geantwortet, und da hat sie behauptet, ich wollte gar nicht, dass es ihrer Mutter besser ginge. ›Wahrscheinlich wollen Sie sie bloß loswerden, damit ihr Bett frei wird!‹, hat sie geblafft.«
    »Das kann doch nicht wahr sein!«
    »Ist es aber.«
    Natürlich begreife ich, wie schwer es ist zu erleben, dass jemand, der einem nahesteht, sich so verändert, wie viele unserer Patienten es tun. Offen gesagt, habe ich keine Ahnung, wie ich damit umgehen würde, wenn meine Eltern oder meine Frau dement würden. Vielleicht würde ich ebenfalls die Nerven verlieren und jedem, der mir über den Weg läuft, die Schuld an der Misere geben, aber da ich die Lage momentan von außen betrachte, bin ich immer perplex, wie manchmal mit Leuten umgesprungen wird, die nur helfen wollen.
    Unser Gespräch wurde unterbrochen, weil jemand hinter mir auftauchte. Es war Louise, die ihren Gehwagen vor sich herschob. »Da kommt jemand von Ihrem Fanclub«, sagte Mary.
    Ich stand vom Tisch auf, um Louise zu begrüßen. Die strahlte übers ganze Gesicht und sagte etwas.
    »Sie sagt: Was für ein stattlicher Mann!«, übersetzte Mary.
    Ich umarmte Louise flüchtig, und sie kicherte. Dann machte sie kehrt und wanderte wieder den Flur entlang.
    »Sie ist noch ganz gut unterwegs«, sagte ich, während ich sie beobachtete.
    »Mit ihrer Mobilität hat sie kein Problem«, erwiderte Mary. »Sie besucht ständig andere Patienten, egal, ob die es merken oder nicht. Ach ja, genau …«
    Damit sprang Mary auf und eilte den Flur entlang. Einige Türen weiter holte sie Louise ein und begann, in dem am Gehwagen befestigten Korb zu kramen. Wenig später kam sie mit vollen Händen wieder auf mich zu.
    An der Schwesternstation angekommen, präsentierte sie mir einen beigefarbenen Pullover, ein Stethoskop – und einen einzelnen Hausschuh.
    »Mrs.Louise Chambers«, sagte sie, »betätigt sich nämlich gern als Kleptomanin.«
    Sie legte das Stethoskop und den Pulli auf den Tisch.
    »Das Stethoskop gehört einem Medizinstudenten, der letzte Woche hier tätig war. Bestimmt sucht er überall danach.«
    »Moment«, sagte ich, als sie mit dem Hausschuh zu Sauls Zimmer aufbrechen wollte. »Dürfte ich das wohl erledigen? Ich würde gern herausbekommen, was Barbara Strahan im Kopf herumgeht.«
    »Bitte sehr«, sagte Mary achselzuckend und

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