Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
Vom Netzwerk:
etwas erwidern wollte, hob sie abwehrend die Hand. »Aber Sie müssen mich verstehen. Manchmal habe ich das Gefühl, die Wünsche, die er früher geäußert hat, sind alles, was ich noch von ihm habe. Und er hat gesagt, er will, dass in so einer Situation alles für ihn getan wird, was möglich ist.« Damit brach sie wieder in Tränen aus.
    Über Sauls gesundheitlichen Zustand und die Alternativen am Ende seines Lebens mussten wir uns irgendwann länger unterhalten, wahrscheinlich bald. Telefonisch hatten wir bereits damit angefangen. Nun jedoch war nicht der richtige Zeitpunkt. Es war nicht der passende Augenblick, Barbara zu sagen, dass die Person, die mit ihr und ihrem Sohn zu Baseballspielen gegangen war, nie wiederkehren würde.
    »Sie müssen heute keine Entscheidungen treffen«, sagte ich. »Und obwohl es Ihnen wahrscheinlich nicht hilft, möchte ich doch sagen: Ich verstehe, wie schwer es ist, jemanden zu sehen, der immer noch wie Ihr Vater aussieht, aber so viel von dem verloren hat, was ihn zu der Person machte, die Sie kannten. Leute, die schon ein anderes Familienmitglied durch Krebs oder einen Autounfall verloren hatten, haben mir gesagt, es sei viel schlimmer zu sehen, wie jemand langsam an seiner Demenz stirbt.«
    Barbara nickte, und ich sah, dass sie angenommen hatte, was ich ihr hatte sagen wollen. Nach einer Weile versiegten ihre Tränen, und sie sah gefasster aus. Vielleicht hatte es ihr geholfen zu hören, dass sie in ihrem Kummer nicht allein war.
    »Vielen Dank, Doktor«, sagte sie.
    »Für den Hausschuh?«, fragte ich und hob die Augenbrauen.
    »Klar.« Sie verzog den Mund zu einem Lächeln. »Für den Hausschuh.«

[home]
    Katzen befinden sich immer
auf der verkehrten Seite der Tür.
    Unbekannt
    10
    E s war Zeit, die Spur des Geheimnisses um Oscar wieder aufzunehmen – doch in welche Richtung sollte ich mich wenden? Wie üblich war es Mary, die mir den geeigneten Schritt nahelegte.
    »Wenn jemand von den Angehörigen sich bei uns auskennt«, sagte sie mir eines Nachmittags, »dann Rita und Annette. Schließlich haben sie von allen die meiste Zeit hier verbracht.«
    Das stimmte. Die beiden Schwestern waren ganze zehn Jahre regelmäßig zu uns gekommen, weil erst ihr Vater und dann ihre Mutter bei uns gewohnt hatten. Wer hätte mir mehr über meinen vierbeinigen Kollegen erzählen können?
    Als ich Ritas Nummer wählte, war ich mir allerdings nicht sicher, ob die beiden jemals wieder den Fuß in ein Pflegeheim setzen wollten. Die Sorge war unbegründet, denn sie boten von sich aus an, mich einige Tage später zu besuchen.
    »Wir freuen uns immer, wenn wir über Oscar sprechen können«, sagte Rita. »Außerdem ist es schön, unsere alten Freunde wiederzusehen.«
    Als ich nach einem langen Arbeitstag in meiner Praxis zum Pflegeheim fuhr, dachte ich über die letzten zehn Jahre
meines
Lebens und über alles, was sich in dieser Zeit verändert hatte, nach. Im Anschluss ans Medizinstudium hatte ich meine Facharztausbildung gemacht und meine berufliche Laufbahn begonnen. Ich hatte meine Frau kennengelernt, geheiratet und zwei Kinder mit ihr bekommen, wodurch aus dem sorglosen, unabhängigen Leben eines Junggesellen das eines Familienvaters mit allen Freuden und Verpflichtungen geworden war.
    Auch äußerlich hatte ich mich verändert. Zu meinem Missvergnügen hatte ich zehn Kilo zugenommen, und mein Haar war nicht nur schütter geworden, sondern auch wesentlich stärker ergraut, als mir lieb war. Außerdem hatte ich gelernt, mit meiner eigenen chronischen Erkrankung und den damit verbundenen körperlichen Einschränkungen umzugehen.
    Es kam mir ein wenig seltsam, wenn nicht gar unfair vor, dass ich mit solchen alltäglichen Dingen beschäftigt gewesen war, während Rita und Annette so hingebungsvoll nacheinander für beide Eltern gesorgt hatten, erst zu Hause und dann bei uns im Heim. So gern ich meinen Patienten auch erklärte, zu sterben sei ein Teil des Lebens, hatte ich doch den Eindruck, das vergleichsweise bessere Los erwischt zu haben.
    Die Schwestern saßen in der Eingangshalle, umgeben von mehreren Mitgliedern des Personals. Es war schon Monate her, seit sie fast täglich zu uns gekommen waren, und nun gab es mit den Menschen, die so wichtig für sie geworden waren, viel zu besprechen. Ich hielt mich eine Weile im Hintergrund und sah zu, wie weitere Pflegerinnen und Schwestern ankamen, um mit ihnen zu plaudern. Dabei fiel mir auf, wie vergnügt die beiden Schwestern mit allen umgingen.

Weitere Kostenlose Bücher