Oscar
erregte Auseinandersetzung zwischen Mary und einer gut gekleideten Frau mittleren Alters. Es war Saul Strahans Tochter Barbara. Zwei Pflegehelferinnen standen schweigend daneben und beobachteten den Streit, bei dem es offenbar um einen Hausschuh ging.
»Ich verstehe ja, dass Sie verärgert sind, aber versuchen Sie doch bitte, das nüchtern und sachlich zu sehen«, sagte Mary beruhigend.
»Nüchtern und sachlich?«, rief Barbara. »Auf Ihre Belehrungen kann ich gern verzichten! Das habe ich nicht …«, und bevor ich mich davonmachen konnte, erkannte sie mich.
»Können Sie dem Personal hier nicht mal Beine machen?«, fuhr sie mich an. »Das ist in zwei Jahren schon das dritte Mal, dass Hausschuhe verloren gehen!«
Mitten in einen Konflikt geraten, von dem ich keine Ahnung hatte, sagte ich gar nichts. Barbara schlug dramatisch die Hände über dem Kopf zusammen, dann richtete sie ihren Zorn wieder gegen Mary und die beiden Helferinnen.
»Ist es eigentlich zu viel verlangt, dass Sie sich um die Sachen meines Vaters kümmern?«
Mary bot vorsichtig eine Erklärung an: »Bestimmt wird der Hausschuh bald wieder auftauchen«, sagte sie. »Wahrscheinlich hat ein anderer Patient ihn einfach aus dem Schrank Ihres Vaters genommen. Wir finden ihn schon. Das tun wir fast immer.«
»Und wieso schaffen Sie es nicht, die anderen Patienten daran zu hindern, ins Zimmer meines Vaters einzudringen?«
»Das versuchen wir ja, Barbara, aber es ist sehr schwer zu kontrollieren, was sie anstellen, wenn wir gerade nicht hinschauen.«
»Wie wär’s, wenn Sie sich mal mehr Mühe geben?«, schnauzte Barbara. Zur Bekräftigung funkelte sie uns alle nacheinander an, dann wandte sie sich zum Gehen. Vorher warf sie allerdings noch einen kritischen Blick auf Lydia, eine der beiden Helferinnen, die aus Lateinamerika kam.
»Übrigens sollten Sie sich nach besseren Helferinnen umsehen«, sagte sie. »Oder zumindest nach Leuten, die besser Englisch sprechen!«
Damit stürmte sie den Flur entlang aufs Zimmer ihres Vaters zu.
Ich blickte zu Lydia hinüber, der Tränen in die Augen getreten waren. Mit einer raschen Handbewegung wischte sie sie weg.
Mary legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie meint es nicht so«, sagte sie. »Sie ist nur völlig durcheinander.«
Lydia nickte und versuchte zu lächeln, aber die kränkenden Worte hatten gesessen. Es war deutlich zu sehen, dass es eine Zeit dauern würde, bis sie sich davon erholte. Sie drehte sich um und ging davon. Wir standen in peinlichem Schweigen da. Schließlich schüttelte Mary den Kopf und wandte sich an die andere Helferin.
»Versuchen Sie doch mal, diesen blöden Hausschuh zu finden«, sagte sie ruhig.
»Tja, da bin ich mal wieder genau zur richtigen Zeit gekommen«, sagte ich, als die junge Frau verschwunden war. »Was sollte der ganze Zirkus eigentlich?«
»Das war die Tochter von Saul Strahan. Ich dachte, die hätten Sie schon kennengelernt.«
»Ja, aber nur kurz, als ihr Vater bei uns ankam. Sonst haben wir nur miteinander telefoniert. In letzter Zeit allerdings ziemlich häufig.«
Ich setzte mich an den Schreibtisch und sah Mary forschend in die Augen. Da sie perfektionistisch war, was ihre Arbeit anging, kochte sie innerlich wohl vor Wut. Mehr als über den Vorwurf, sie würde kein straffes Regiment führen, ärgerte sie sich wahrscheinlich wegen des Angriffs auf die Helferin.
»Ich muss mal raus zu einer Zigarettenpause«, sagte Mary. Sie ging ins Stationszimmer, wo sie mehrere Minuten vergeblich nach ihrer Packung suchte. Als sie wieder nach vorne kam, ohne ihren Mantel vom Haken zu nehmen, war mir klar, dass sie sich bereits beruhigt hatte.
»Mal ehrlich, Mary, geht Ihnen so was nicht fürchterlich auf die Nerven?«, fragte ich.
Sie seufzte. »Es ist manchmal kaum zu glauben, wie die Leute sich benehmen, aber ich bin nun schon fast zehn Jahre hier, und vorher habe ich in mehreren anderen Heimen gearbeitet. Inzwischen bin ich in der Lage, alle Angehörigen schon beim ersten Blick in vier Kategorien einzuteilen. Die einen sind zornig, die anderen haben Schuldgefühle, die dritten haben Angst, und dann gibt’s auch noch die, auf die alle drei Emotionen zutreffen. Ja, und wir bemühen uns, dass alle diese Leute irgendwann akzeptieren, was hier bei uns geschieht.« Sie beschrieb mit den Händen einen Kreis, der alles einschloss – die Station, die Patienten und die Endgültigkeit von deren Zustand. »Mit der Zeit tun die meisten das auch. Aber manchmal schaffen wir
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