Oscar
Morgens in ein Krankenzimmer gekommen, um eine Patientin zu untersuchen, bei der man eine leichte Lungenentzündung diagnostiziert hatte.
Trotz ihres Zustands war erkennbar, dass es sich um eine wunderschöne Frau handelte. Mit ihrem langen blonden Haar und ihren erstaunlich blauen Augen hätte sie die Titelseite einer Modezeitschrift zieren können. Allerdings sah sie blass und ängstlich aus.
»Na, wie geht es Ihnen?«, fragte ich mit gezwungener Jovialität. Ich war noch nicht lange Arzt und versuchte, meine mangelnde Erfahrung mit einer Umgangsweise wettzumachen, die ich für gewinnend hielt. Dabei wirkte ich vermutlich eher wie ein Flegel.
Die Patientin sah mich an, als versuchte sie zu entscheiden, ob sie mir vertrauen sollte oder nicht. Nervös verlagerte sie das Gewicht und griff mit Daumen und Zeigefinger eine Haarsträhne, um sie zu zwirbeln.
»Eigentlich«, erwiderte sie nach einem Augenblick, »fühle ich mich gar nicht schlecht. Aber als ich vorhin aufgewacht bin, da hatte ich geträumt, dass ich heute sterben würde. Seither versuche ich ständig, mir einzureden, dass es bloß ein Traum war, aber ehrlich gesagt habe ich furchtbare Angst.« Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Dabei weiß ich doch, wie töricht das ist!«
Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie man auf völlig irrationale Ängste reagiert, aber womöglich hatte man uns das im Studium gar nicht beigebracht. Schließlich legte ich der Patientin eine Hand auf die Schulter und tat mein Bestes, ärztliche Autorität auszustrahlen.
»Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen machen«, sagte ich. »Es geht Ihnen schon viel besser. Ich glaube sogar, wir können Sie heute entlassen. Die Antibiotika schlagen gut an, und in ein paar Tagen sind Sie wieder völlig gesund.«
Diese Mitteilung quittierte sie mit einem Nicken, das keinerlei Erleichterung ausdrückte.
»Das muss ja wirklich ein übler Traum gewesen sein«, sagte ich. »Jetzt werde ich Sie erst mal untersuchen.« Trotz meiner mangelnden Erfahrung ahnte ich, dass sich die Spannung am besten lösen ließ, wenn ich auf die Ängste der Patientin einging. Wollen wir denn nicht alle, dass man uns zuhört und unsere Ängste ernst nimmt, egal, wie abstrus sie erscheinen mögen?
Tatsächlich schien es der Patientin schon zu helfen, dass man sich um sie kümmerte. Während ich sie untersuchte, spürte ich, wie sie sich entspannte. Ich maß ihr den Blutdruck und hörte Herz und Lunge ab. Nach jedem Schritt erklärte ich beruhigend, ich könne nichts Auffälliges finden, von den inzwischen stark zurückgegangenen Anzeichen einer Lungenentzündung im linken unteren Lungenflügel einmal abgesehen. Als ich fertig war, hatte sich die Miene der Patientin deutlich aufgehellt.
»Vielen Dank, Doktor«, sagte sie schließlich. »Wahrscheinlich muss ich einfach endlich aus dieser Umgebung hier heraus.«
Als ich das Zimmer verließ, war ich recht zufrieden mit mir selbst. Offensichtlich entwickelte ich mich zu einem richtig guten Arzt.
Drei Stunden später erhielt ich einen dringenden Anruf.
»Um wen geht es?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht«, sagte der Pfleger am Telefon. »Ich rufe Sie nur im Auftrag der zuständigen Schwester an. Aber Sie sollten sich beeilen.«
Als ich zu der Station eilte, auf der ich morgens die junge Frau untersucht hatte, versuchte ich mir einzureden, es müsse sich um jemand anders handeln. Schließlich gab es so viele wesentlich kränkere und ältere Patienten dort, zum Beispiel eine fünfundachtzigjährige Frau mit Lungenkrebs und einen stark geschwächten Diabetiker, der gerade einen Herzanfall gehabt hatte.
Auf dem betreffenden Stockwerk angelangt, lief ich zum Stationszimmer, wo man mich nicht zum Zimmer meiner jungen Patientin schickte, sondern in die Gegenrichtung. Mit einem verqueren Gefühl der Erleichterung dachte ich: Es ist wohl wirklich jemand anders! Ich hastete um die Ecke, vorbei an einem EKG -Gerät und einem Servierwagen, auf dem die Überreste des Mittagessens standen. Als ich das letzte Hindernis umrundete, sah ich am anderen Ende des Flurs jemanden auf dem Boden liegen. Bewusst verlangsamte ich meine Schritte, um mein Herzklopfen unter Kontrolle zu bringen, während ich weiterging.
Es war die Patientin von morgens.
Der Wand zugekehrt, lag sie zusammengekrümmt auf den Fliesen. Ihr Gesicht konnte ich zwar nicht sehen, doch das lange blonde Haar war unverkennbar. Wie gelähmt blieb ich stehen.
»Doktor, soll ich das
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