Oscar
wir unserer Tochter nachts, während wir sie in den Schlaf wiegten, oft Stücke von Bach vorgespielt. Auf Patienten mit Demenz kann Musik eine ähnliche Wirkung haben. Sie stellt gewissermaßen einen Zugang zu ihnen dar, ein Kommunikationsmedium.
»Als wir hier noch zusammenlebten, bevor mein Mann ins Pflegeheim kam«, erzählte Jeanne, »da begannen wir jeden Tag mit einer Bach-Kantate oder einem Klavierkonzert von Mozart. Das fand er so schön. Im Heim wusste er schon nicht mehr, wie man einen CD -Spieler einschaltet, deshalb habe ich die Platten eingelegt. Dann saß er mit geschlossenen Augen in seinem Schaukelstuhl und lauschte, ganz in die Musik versunken.«
Jeanne setzte sich mir gegenüber. »Das war an Linos Krankheit wirklich interessant. Am Ende seines Lebens konnte er kaum mehr etwas tun, und manchmal war er grundlos aufgeregt, aber wenn man ihm Jazz vorspielte, dann saß er stundenlang zufrieden in seinem Sessel. Alzheimer ist wirklich eine merkwürdige Krankheit. Oder haben Sie eine Erklärung für solche Dinge?«
»Tja, ich vermute, dass bestimmte, tief verwurzelte Erinnerungen nie vollständig verschwinden«, sagte ich. »Offenbar gibt es emotionale Reaktionen, die weiterhin zugänglich sind. Das heißt, manches geht nie ganz verloren. Zum Beispiel hat Lino am Ende ja Ihren Namen nicht mehr gekannt, aber mit Sicherheit wusste er, dass Sie wichtig für ihn waren.«
Jeanne nickte. Vielleicht fand sie meine Bemerkungen beruhigend, vielleicht hatten sie auch nur bestätigt, was sie bereits erkannt hatte. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte sie. »Aber ich frage mich, wie das genau funktioniert.«
»Nehmen wir einmal an, viele Erinnerungen sind weiterhin vorhanden, aber nicht mehr ohne weiteres abrufbar. Das wäre wie die Festplatte eines Computers, die abgestürzt ist, aber noch immer alle Dateien enthält; man hat nur keinen Zugang dazu. Im Gegensatz dazu kommen bestimmte Erinnerungen aber manchmal doch an die Oberfläche. Ich glaube, deshalb reagieren viele Patienten so positiv auf kleine Kinder und auf Tiere wie Oscar.«
Als sie Oscars Namen hörte, hellte Jeannes Miene sich auf. »Wissen Sie, mein Mann hatte Tiere schon immer geliebt, besonders Katzen. Bevor unser Sohn geboren wurde, hatten wir zwei Siamesen, die uns sehr ans Herz gewachsen waren. Leider war unser Sohn furchtbar allergisch gegen Katzen, deshalb haben wir uns nach dem Tod der beiden keine neuen angeschafft.«
»Hat Lino auf Oscar reagiert?«
»Natürlich! Manchmal hat er ihn regelrecht quer durch die Station verfolgt.«
Es passte zu dem Lino von früher, zu seiner Neugier und Wissbegierde, dass er sich ausgerechnet für Oscar interessiert hatte, der sonst bekanntlich nicht besonders kontaktfreudig war. Bestimmt war es ihm gar nicht recht gewesen, zum Ziel von Linos wissenschaftlichem Forscherdrang zu werden. Aber vielleicht war das auch eine Überinterpreta-tion, und es hatte Lino einfach Spaß gemacht, ein Tier zu jagen.
»Und am Ende, war Oscar dann da?«, stellte ich meine gewohnte Frage.
»Ja, ich glaube, er hat es schon vor den Schwestern und Pflegerinnen gemerkt. Sie wissen ja, mein Mann hat eine Lungenentzündung bekommen, und dann ging es ziemlich rasch abwärts, auch weil wir uns gegen aggressive Medikamente entschieden hatten. Am Tag, an dem er starb, kam ich nachmittags zu ihm. Es ging ihm schlecht, aber er hat noch durchgehalten. Irgendwann kam eine Schwester herein und hat mir gesagt, es würde wahrscheinlich nicht so schnell gehen, und ich könnte erst einmal wieder heim. Also bin ich nach Hause gefahren, um mich zu duschen und etwas zu essen, aber kaum war ich da, hat man mich angerufen. Als ich wiederkam, sah ich, dass die Lage sich gewandelt hatte. Man hatte das Licht heruntergedreht, und Oscar saß auf dem Bett, als würde er Wache halten.«
Jeanne blickte in die Ferne. »Ich glaube, da habe ich es gewusst. Schließlich hatte ich schon gehört, wie Oscar sich verhält. Deshalb habe ich meinen Sohn angerufen und ihm gesagt, er solle jetzt kommen. Erst als er eintraf, fiel mir seine Katzenallergie wieder ein. Ich habe ihn gefragt, ob ich Oscar wegschicken soll.«
Sie lächelte. »Das hat mein Sohn glatt abgelehnt. ›Nein‹, sagte er, ›Dad mag Katzen so gern, und vielleicht freut er sich irgendwie, dass eine jetzt auf seinem Bett sitzt. Ich werde es schon aushalten.‹«
Wir saßen eine Weile schweigend da und lauschten der Musik. Jeanne blickte aus dem Fenster, wo ein Vogel auf ihrem Futterhäuschen
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