Oscar
Notfallteam rufen?«, rief eine Stimme hinter mir.
Es war Judy, eine erfahrene Krankenschwester, die eilig auf mich zukam. Sie zog eine Sauerstoffflasche hinter sich her. Geschockt, wie ich war, gab ich keine Antwort.
»Doktor!«
Ich fuhr zusammen. »Was ist passiert?«, fragte ich.
»Wir haben ihr vorhin gesagt, sie soll ein wenig auf dem Gang spazieren gehen, damit ihr Kreislauf in Schwung kommt, bevor sie entlassen wird«, berichtete Judy nervös. »Urplötzlich ist sie zusammengebrochen. Als ich hier ankam, hatte sie bereits Atemnot.«
Hastig spulte Judy die von ihr gemessenen Werte herunter – Herzfrequenz, Blutdruck, Temperatur, Atemfrequenz –, die ich kurz überdachte, bevor ich mich neben die Patientin kniete. Als ich sie von der Wand wegdrehte, sah ich, dass ihr Gesicht aschfahl geworden war. In den Augen standen Tränen, und die Brust hob und senkte sich, als würde sie gegen einen unsichtbaren Druck ankämpfen. Ich beugte mich näher zu ihr, und da trafen sich unsere Blicke. Was ich da sah, werde ich nie vergessen – Furcht, aber auch den Vorwurf, betrogen worden zu sein.
»Ich kriege keine Luft«, keuchte die Frau, nach Atem ringend.
Ich wandte mich nach Judy um und sagte ihr, sie solle das Notfallteam rufen. Dann versuchte ich, die Patientin zu beruhigen.
»Keine Angst«, sagte ich, »gleich kommt Hilfe!«
Diesmal hatte ich jedoch selber Angst, und das konnte sie sicher in meiner Stimme hören. Sie begann zu schluchzen. Ich schob ihr die Hände unter die Achselhöhlen, richtete sie auf und lehnte sie mit dem Oberkörper an die Wand. Dann griff ich nach dem Schlauch der Sauerstoffflasche, drückte der Patientin die Maske aufs Gesicht und drehte auf. Daraufhin schien ihr Zustand sich zu verbessern. Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und ihre Brust hob und senkte sich nicht mehr so stark und so gequält. Ich versuchte mich zu entspannen. Wir würden das schon überstehen.
»Keine Angst«, wiederholte ich und brachte sogar ein Lächeln zustande.
Hinter mir hörte ich die hastigen Schritte des nahenden Notfallteams. »Na also, da kommen sie schon«, sagte ich. Die Frau sah mich wieder an, doch nun war ihr Blick leer. Dann drehten sich die Augen nach oben, und sie sank von der Wand zu Boden. Umgeben von hektischen Rufen, begann ich mit der Wiederbelebung. Nach ein paar Minuten verzweifelter Herzdruckmassage gab ich erschöpft auf und überließ meinen Platz einem Kollegen. Dann stand ich inmitten des Getümmels da und sah, wie der Herzstillstand offensichtlich wurde.
Sie hatte Angst gehabt. Weshalb hatte ich keine zusätzlichen Tests durchführen lassen? Weshalb war ich nicht bei ihr geblieben?
Dreißig Minuten später gaben wir unsere Rettungsversuche auf, und ich musste den Totenschein für eine Frau ausstellen, die mir wenige Stunden zuvor gesagt hatte, sie habe von ihrem nahen Tod geträumt. Meine Untersuchung hatte keinerlei Hinweise darauf ergeben, und doch hatte die Frau es gewusst. Woher?
Bei der später vorgenommenen Autopsie stellte sich her-aus, dass ein großes Blutgerinnsel in die Lunge gewandert war. Außerdem fand man eine seltene Blutkrankheit, die ein solches Ereignis begünstigt hatte. Es gab also eine wissenschaftliche Erklärung dafür, weshalb die Patientin an jenem Morgen gestorben war – aber wie war ihr Traum zu erklären?
Seither habe ich viele seltsame Dinge gesehen. Zum Beispiel behandelte ich einmal einen Mann, dessen Krebserkrankung sich schon im ganzen Körper ausgebreitet hatte. Ein Jahr später war die Krankheit verschwunden, obwohl er jede aggressive Therapie verweigert hatte. Er war jemand, der eigentlich hätte sterben
sollen
– aber am Leben blieb.
Ein anderer Patient bestand darauf, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, weil bei ihm »etwas nicht in Ordnung« sei, obwohl sämtliche Untersuchungen das Gegenteil ergaben. Er weigerte sich, entlassen zu werden. Wir hielten ihn für psychisch gestört und hatten schon eine psychiatrische Untersuchung in die Wege geleitet, als sich im Herzmonitor plötzlich eine lebensbedrohliche Rhythmusstörung zeigte. Wie die junge Patientin in Pittsburgh hatte er Bescheid gewusst, und wenn er sich auf unseren fachlichen Rat verlassen hätte, so wäre er heute wahrscheinlich nicht mehr am Leben.
Zu denken gegeben hat mir auch die Begegnung mit einer alten Frau, die mir an Silvester 1999 erklärte, sie habe ihr Ziel erreicht, bis zur Jahrtausendwende zu leben. »Ich werde heute sterben«, teilte sie mir völlig
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