Oscar
ungerührt mit. Sämtliche Untersuchungen ergaben, dass sie völlig gesund war. Keine Infektionen, keine Herzprobleme, nichts, was direkt zum Tod hätte führen können. Sie kam einfach ins Krankenhaus, weil sie bereit war zu sterben. Und wie sie vorhergesagt hatte, starb sie mehrere Stunden später an unbekannten Ursachen.
Die Wissenschaft hat uns in unserem Beruf sehr weit gebracht, und dennoch bewegen wir uns immer noch an der Oberfläche. Der Rest bleibt ein Geheimnis. Vielleicht wissen manche Menschen einfach, wann ihre Zeit gekommen ist. Manche Katzen ebenfalls.
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Katzen haben zu viel Geist,
um kein Herz zu haben.
Ernest Menaul
13
I ch hielt die Unterlagen der neuen Patientin in den Händen. Sie hieß Arella Matos, war neunzig Jahre alt und litt an Alzheimer. Dazu kam eine lange Liste weiterer Diagnosen und Medikamente. Das sah nach einem Bericht über jemanden aus, den ich wahrscheinlich nicht lange behandeln würde.
Als ich ins Zimmer von Mrs.Matos kam, fand ich dort ihre drei Töchter vor, die so nah beieinandersaßen, als hätten sie sich zum Gebet versammelt. Dahinter lag schlafend ihre Mutter. Neben ihr saß ein kleiner Junge auf dem Bett, eine Actionfigur in jeder Hand. Die beiden Kerle kämpften miteinander.
»Guten Tag«, sagte ich zu der versammelten Familie, »ich bin Dr.Dosa.«
Die Töchter – Gabriella, Catarina und Ana – stellten sich nacheinander vor. Als ich ihnen die Hand schüttelte, studierte ich ihre Gesichter. Aus einem Gesicht, vor allem aus den Augen, kann man viel erfahren, denn dort zeigt sich alles: Glück, Sorgen, Erregung, Furcht. Die Augen dieser drei Frauen waren von einer tiefen Traurigkeit erfüllt. Ob sie es sich eingestanden oder nicht, sie wussten, dass ihre Mutter am Ende ihrer Reise angekommen war.
»Und wer ist das?«, fragte ich schließlich und deutete auf den kleinen Jungen, der bestimmt nicht älter als fünf Jahre war und mich an meinen Sohn erinnerte. Gabriella, offenkundig die älteste der Töchter, antwortete: »Das ist mein Sohn Freddy.«
Ich trat ans Bett und setzte mich neben ihn.
»Hallo, Freddy! Ich bin Dr.Dosa. Wie alt bist du?«
Freddy hob eine Hand und spreizte die Finger, um zum Ausdruck zu bringen, dass er tatsächlich fünf Jahre alt war. »Das ist Spiderman, und das ist Superman«, sagte er.
»Sind die auch zu Besuch bei deiner Großmutter?«
Freddy nickte, um sich dann wieder dem Zweikampf der beiden Superhelden zuzuwenden.
Ich sah die drei Frauen an. »Erzählen Sie mir doch bitte ein wenig über Ihre Mutter«, sagte ich.
Gabriella antwortete als erste: »Doktor, es ist ganz schrecklich für uns, dass wir sie nicht mehr zu Hause haben können. Sie hat immer zu uns gesagt …« Bei den letzten Worten wurde Gabriellas Stimme immer leiser, bis sie kaum mehr hörbar war. Ich stand vom Bett auf, zog einen Stuhl heran und setzte mich vor die drei.
»Es ist einfach zu viel für uns geworden«, fügte Catarina hinzu. »Wir haben es nicht mehr geschafft.«
Offenbar hatten die Schwestern das Gefühl, ihre Mutter im Stich gelassen zu haben, weil sie deren Wünsche nicht befolgt hatten. Angesichts des Zustands, in dem die Patientin sich befand, war jedoch nur zu deutlich, dass die Umstände es manchmal unmöglich machten, solche Wünsche zu erfüllen.
Eine Krankenschwester kam ins Zimmer, um die erste Untersuchung durchzuführen. Ich schlug vor, so lange in den Aufenthaltsraum zu gehen, um uns ungestört zu unterhalten.
Dort angekommen, begann Ana, die jüngste Tochter, zu erzählen: »Unsere Mutter war immer ausgesprochen unabhängig. Als wir drei hier eingewandert sind – wir kommen aus der Dominikanischen Republik –, blieb sie dort. Sie hat allein gelebt und uns am Telefon nie etwas über ihren Zustand gesagt, deshalb haben wir nichts geahnt, bis es zu spät war. Als Catarina und ich sie dann besucht haben – das ist etwa zwei Jahre her –, da war ihre Wohnung eine einzige Katastrophe. Überall lagen Zeitungen herum, und die Spüle war voll von schmutzigem Geschirr. Nicht einmal ihre Kleider hat sie mehr gewaschen.«
Ana warf einen Blick auf Catarina, wie um sich die gemeinsame Erinnerung bestätigen zu lassen.
»Als wir das gesehen haben, sind wir erst einmal hinausgegangen und haben geweint. Mutter war immer so stolz auf ihre Wohnung gewesen. Kaum hatte man seinen Becher Kaffee ausgetrunken, da stand sie schon auf, um ihn auszuspülen. Aber jetzt? Wie konnten wir sie so leben lassen? Deshalb haben wir kurzerhand
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