Oscar
gelandet war, doch das Häuschen war leer, und der Vogel blieb nicht lange. Als er wegflog, sah sie mich wieder an. Ihre Miene hatte sich verändert; statt einer leisen Wehmut drückte sie nun großen Ernst aus.
»Zu sehen, wie jemand, den man liebt, so aus der Welt geht wie mein Mann … das ist das Schwerste«, wiederholte sie.
Sie zog ein Papiertaschentuch hervor und wischte sich damit über die Stirn. »Ich bin so dankbar für die Zeit, die wir zusammen hatten, die gute Zeit, bevor er …« Sie stockte. »Diese Jahre würde ich gegen nichts auf der Welt eintauschen, aber ich bin immer noch nicht so weit, dass ich Lino so sehen kann, wie er vor seiner Krankheit war.«
Darauf verbat sich jeder Kommentar. Ich war da, um zu lernen und zuzuhören.
Nach einer Weile sagte sie: »Darum geht es wohl, wenn man sich bei der Hochzeit verspricht, man wolle zusammenhalten – in guten wie in schlechten Zeiten.«
Sie betrachtete einen digitalen Fotorahmen, der auf dem Küchentisch stand. Auf seinem Display wechselten sich Kinderbilder ab. »Meine Enkel«, sagte Jeanne. »Den Rahmen hat mir mein Sohn zu Weihnachten geschenkt.«
Ich sah das Foto eines Jungen, der auf seinem Schlitten scheinbar mitten in der Luft hing, Begeisterung auf dem Gesicht. Es war ein Bild, wie alle Eltern und Großeltern es lieben, weil es die Sorglosigkeit der Kindheit ausdrückte, frei von den komplexen Situationen, mit denen wir später im Leben konfrontiert sind.
Jeanne deutete auf dieses Bild und sah mich an. »Genießen Sie die Zeit«, sagte sie. »Die ist nämlich vorbei, ehe man es sich versieht.« Sie stand auf, um eine Keksschachtel aus dem Regal zu holen. »Überhaupt habe ich jetzt genug von mir und meinem Mann erzählt. Jetzt erzählen Sie mir mal von Ihren Kindern!«
Als ich an diesem Abend durch meine Haustür trat, wurde ich vom schrillen Kreischen meines dreijährigen Sohnes Ethan begrüßt, der aus der Küche gerannt kam, die Arme weit ausgebreitet. Sein Gesicht war so voller Freude wie das des Jungen auf dem Bild, das ich vorher gesehen hatte. Um ihm dieses Gefühl zu verschaffen, musste ich nichts anderes tun, als nach Hause zu kommen. Ich hob ihn hoch und drückte ihn fest an mich.
»Na, wie geht’s, mein Großer?«, fragte ich, und nachdem er mir einen Kuss auf die Backe gegeben hatte, stürzte er sich in einen atemlosen, nicht ganz verständlichen Bericht über alles, was ihm tagsüber begegnet war.
»Daddy, heute hab ich was im Kindergarten gesehen, das rätst du nie!«
»Was denn?«
»Sag ich dir nicht … ist ein Geheimnis!«
Dieses Spiel spielten wir oft. Nun musste ich raten.
»War es ein Raumschiff?«
Er sah mich mit großen Augen an. »Neiiiin, Daddy.«
»War es ein … Dino?«
»Neiiiin, Daddy.«
»War es ein …?«
Nun konnte Ethan sich nicht länger beherrschen. »Es war ein Feuerwehrauto!«, platzte er heraus. »Und es war groß und rot und hat ganz viel Krach gemacht.«
So ging es weiter, während ich ihn ins Wohnzimmer trug, wo meine Frau Dionne neben unserer kleinen Tochter Emma auf dem Teppich lag. Als sie mich sah, strahlte sie mich an, und einen Augenblick hatte ich fast den Eindruck, das Baby würde ihr das nachmachen. Das waren die Dinge, an denen ich mich freuen konnte, und ich wollte nicht warten, bis ich in Rente gegangen war, um sie schätzen zu lernen.
[home]
Zeit, die man mit Katzen verbringt,
ist niemals vergeudet.
Colette
12
I ch brannte darauf, Mary von meinem Gespräch mit Jeanne Ferretti zu berichten, doch das musste bis morgen warten. Es war schon halb fünf Uhr nachmittags, und das Personal der Tagschicht war nach Hause gegangen. Außerdem musste ich noch eine neue Patientin untersuchen. Als ich im Erdgeschoss auf den Aufzug zuging, wurde ich von einer vertrauten Stimme aufgehalten.
»He, Sie da!«, rief Ida von ihrem Rollstuhl aus. »Wo rennen Sie denn wieder hin?«
»Ich habe lange Beine, Ida«, scherzte ich, »und die muss ich ständig gebrauchen.«
»Ach ja, an diese Tage erinnere ich mich nur zu gut. Zu viele Termine, nicht genug Zeit, um alles zu erledigen. Und alles ist anscheinend immer ungeheuer wichtig.«
»Wollen Sie mir damit etwa sagen, dass ich das Tempo drosseln soll?«
»Sie müssen das Leben genießen, Dr.Dosa. Kosten Sie jeden Moment aus!«
Etwas ganz Ähnliches hatte ich gerade in einer E-Mail gelesen. »Komisch«, sagte ich, »gerade hat die Frau eines früheren Patienten mir dasselbe geschrieben.«
»Mit einem früheren Patienten meinen Sie wohl
Weitere Kostenlose Bücher