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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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Stock, die aussieht wie meine Mutter.
«
    Ich saß im Wohnzimmer von Jack McCullough in East Providence. Mary hatte die Verbindung zu ihm hergestellt.
    »Ich musste lernen, meine Mutter als die Person zu akzeptieren, zu der sie geworden war«, erzählte er mir. »Sie sah zwar so aus wie der Mensch, der mich aufgezogen hatte, aber sie war jemand anders.«
    Wehmütig lächelnd, lehnte er sich zurück.
    Es hatte eine Weile gedauert, bis ich mich dazu aufgerafft hatte, mich bei Jack zu melden. Im Gegensatz zu den Angehörigen, die ich bisher befragt hatte, kannte ich ihn nicht. Seine Mutter Marion galt jedoch allgemein als die erste Patientin, die von Oscar besucht worden war. Gestorben war sie im November 2005 , als er noch ganz jung gewesen war. Kaum ein Jahr später war dann auch noch Jacks Tante Barbara bei uns auf der zweiten Etage gestorben. Auch bei ihr hatte Oscar bis zum Ende auf dem Bett gesessen, weshalb Jack ein geradezu idealer Gesprächspartner war.
    »Rufen Sie ihn doch einfach endlich an!«, hatte mich Mary eines Tages aufgefordert, als ich wieder einmal darüber nachgrübelte, ob ich ihn kontaktieren sollte. Auch wenn ich es nun schon ein paar Mal getan hatte, kam es mir immer wieder seltsam vor, irgendwelche Leute um Auskunft über einen Kater zu bitten, der beim Tod von deren Vater oder Mutter anwesend gewesen war.
    Auch in diesem Fall waren meine Bedenken jedoch unbegründet. Jack zeigte sich sofort zu einem Interview bereit. »Ich erzähle nämlich gern über Oscar und das, was er für mich bedeutet hat«, sagte er.
    Die Wohnung von Jack McCullough wirkte museal, aber gemütlich. Sämtliche Möbel waren antik und wahrscheinlich von einer Generation an die andere vererbt worden. Wir saßen auf neu gepolsterten Ohrensesseln an einem historischen Couchtisch. Überall gab es Erinnerungsstücke an Jacks Mutter Marion und deren Schwester Barbara.
    In einer Ecke hing das Foto einer grau getigerten Katze, die offenbar vor langer Zeit zur Familie gehört hatte.
    »Ihre Mutter war wohl eine echte Katzenfreundin«, sagte ich.
    Jack grinste. »Das kann man wohl sagen! Sie ist auf einer Farm in Massachusetts aufgewachsen. Offenbar hat sie schon als Kind mutterlose Kätzchen aufgesammelt, um sie mit Babyfläschchen oder Pipette zu füttern. Ihre Geschwister haben sie als Katzenmutti veräppelt, weil die Tierchen ihr ständig hinterhergelaufen sind.«
    Er beugte sich vor, um eine ebenfalls grau getigerte Katze hochzunehmen, die hereingekommen war, um mich zu beäugen. »Das ist Bijou«, sagte er. »Es würde mich nicht wundern, wenn er eine Reinkarnation von Felix wäre, dem Kater, den wir hatten, als ich klein war.« Er deutete auf das Bild an der Wand. Tatsächlich sahen die beiden Tiere fast identisch aus.
    Jack setzte das Tier wieder auf den Boden, worauf es sofort aus dem Raum flitzte. »Meine Mutter hatte immer eine unglaublich gute Hand für Katzen«, fuhr er fort. »Offenbar haben die sich bei ihr sicher gefühlt. Selbst Katzen, die sonst mit niemandem etwas zu tun haben wollten, sind meiner Mutter auf den Schoß gesprungen. Als ich mir Bijou angeschafft habe, litt meine Mutter schon stark an Demenz und wohnte in der Wohnung über mir. Wenn ich abends nach Hause kam, war Bijou manchmal nirgendwo zu finden. Dann brauchte ich nur hinaufzugehen, und da saß er bei meiner Mutter.«
    Jack stand auf und ging in die Küche, um eine Kanne Kaffee aufzubrühen. Vorher reichte er mir ein kleines Fotoalbum. »Das habe ich zusammengestellt, kurz bevor meine Mutter starb«, sagte er. »Ich habe es immer ins Heim mitgebracht, damit wir uns gemeinsam die Bilder anschauen konnten.«
    Das Album war aus teurem, dickem Karton gemacht und kunstvoll von Hand gebunden. Vielleicht hatte Jack es selber gebastelt, oder es stammte aus einem Fachgeschäft. Während ich es bewunderte, wurde mir klar, wie wichtig es für ihn gewesen sein musste. Er hatte damit wohl nicht nur einen neuen Einblick in die Lebensgeschichte seiner Mutter erhalten, sondern sich auch auf ihren Tod vorbereitet, falls so etwas überhaupt möglich war. Nun stellte das Album eine bleibende Erinnerung an sie dar, eine Möglichkeit, sich in die Zeit vor ihrer Krankheit zurückzuversetzen.
    Es ist ein Paradox, dass Alzheimer und andere Formen der Demenz den Betroffenen ihre Erinnerung rauben, während deren Angehörigen
nur noch
die Erinnerung bleibt. Oft ist es schwierig für inzwischen längst erwachsene Kinder, sich vorzustellen, wie Vater und Mutter mit ihnen

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