Oscar
gespielt, Ausflüge gemacht und ihnen bei den Hausaufgaben geholfen haben. Persönliche Andenken wie das Album, das Jack McCullough zusammenstellte, können da sehr hilfreich sein.
Ich blätterte die Seiten durch. Das Album umfasste die gesamte Lebensreise von Marion McCullough von ihrer Kindheit bis zu ihrer Zeit im Heim. Auffällig war, wie gelassen und ruhig Jacks Mutter fast durchweg aussah. Selbst im Alter war sie noch eine attraktive Frau gewesen, modisch gekleidet, mit schönem Haar und einem makellosen Teint.
Eines der Bilder stach heraus. Als junge Frau saß Marion ein Stück weit vom Fotografen entfernt und hatte den Blick auf etwas gerichtet, das für den Betrachter nicht zu sehen war. Ihre Miene drückte Zufriedenheit aus, hatte jedoch auch etwas Undurchdringliches an sich.
Jack kehrte mit einem Tablett zurück, und ich legte das Fotoalbum auf den Tisch. »Wirklich schön ist das geworden«, sagte ich. »Aber eines interessiert mich: Hat es eigentlich das Gedächtnis Ihrer Mutter angeregt, die Bilder zu betrachten?«
»Manchmal schon«, sagte Jack, während er unsere Tassen füllte. »Ich glaube allerdings, für mich war es wichtiger als für sie.«
»Inwiefern?«
»Tja, man vergisst so viel über jemanden, der Demenz hat. Wenn man ihn anschaut, sind alle Erinnerungen, die man an ihn hatte, irgendwie verschwunden. Da sitzt jemand vor dir, der mit dem Menschen von früher etwas zu tun hat, aber dennoch nicht derselbe ist. Deshalb muss man lernen, Freundschaft mit der Person zu schließen, zu der dieser Mensch geworden ist.«
Er bot mir einen frisch gebackenen Muffin an, der köstlich duftete.
»Ich weiß schon, dass Sie mit mir über Oscar sprechen wollen«, fuhr Jack fort, »aber ich denke, Sie sollten erst ein wenig mehr über meine Mutter erfahren.«
»Auf jeden Fall«, sagte ich.
»Früher habe ich immer gesagt, man muss mit ihr einen Termin vereinbaren, bloß um sie mal zum Mittagessen zu treffen.« Jack schüttelte lächelnd den Kopf. »Noch als sie längst in Rente war, hatte sie immer etwas vor. Sie hat Aerobic gemacht und allerhand Verpflichtungen übernommen, zum Beispiel in der Kirche. Überhaupt war sie ein gutherziger Mensch. Und jemand, der sich an den kleinen Dingen gefreut hat. Ich weiß noch, wie gern sie mit mir und den Kindern aus der Nachbarschaft zur Eisdiele gefahren ist. Einmal sind wir zusammen ins Auto gesprungen, um einen Feuerwehrwagen zu verfolgen, der mit Blinklicht und Sirene an unserem Haus vorbeigerast war. So etwas tun nicht viele Eltern, oder?«
Jack schwieg einen Moment. »Sie war eine tolle Mutter«, sagte er dann, »aber leicht hatte sie es nicht. Sie war nämlich alleinerziehend, würde man heute sagen.«
»Ach ja?«, sagte ich. Im Grunde wusste ich ja praktisch nichts über meinen Gesprächspartner und seine Mutter. »War sie verwitwet oder geschieden?«
So eine Frage würde man heute nicht mehr stellen, aber in den fünfziger Jahren waren alleinerziehende Mütter eine Seltenheit, und ich war neugierig, wie es dieser offenkundig recht ungewöhnlichen Frau ergangen war.
»Weder – noch«, erwiderte Jack. » 1951 lernte meine Mutter einen Mann kennen, in den sie sich verliebte, ganz zufällig und urplötzlich. Er war die einzige wahre Liebe ihres Lebens. Die beiden waren neunundvierzig Jahre zusammen, bis er einige Zeit vor ihr starb.«
»Das verstehe ich jetzt aber nicht«, sagte ich.
»Mein Vater war mit einer anderen Frau verheiratet. Deshalb musste die Beziehung geheim bleiben. Die beiden hatten eine Affäre, die fast fünfzig Jahre dauerte. Ich spreche allerdings lieber von einer Beziehung, und ich bin das Produkt davon.«
Jack sah mich forschend an. Offenbar wollte er herausbekommen, was ich dachte. Es war das Verhalten eines Mannes, dessen Kindheit sicher alles andere als konventionell gewesen war.
»Man könnte sagen, ich habe meinen Vater im Rückspiegel seines Wagens kennengelernt«, fuhr er fort. »Er hat uns regelmäßig abgeholt, und dann sind wir irgendwohin gefahren, manchmal nur zum Essen oder auch mal in eine andere Stadt, wo man uns nicht kannte.«
Er griff nach seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck. »Dr.Dosa, um meine Mutter zu verstehen, müssen Sie wissen, dass sie sich jeden Tag nach dem Aufstehen sorgfältig zurechtgemacht hat, für den Fall, dass mein Vater Zeit für sie hatte. Dieses Verhalten hat sich verselbständigt, und sie hat es selbst dann noch beibehalten, als sie schon dement geworden war.«
Ich dachte an die
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