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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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Fotos, die ich gesehen hatte. Nun wusste ich, weshalb die Frau darauf immer so adrett gekleidet und geschminkt gewesen war.
    »Habe ich Sie jetzt gelangweilt?«, fragte Jack.
    »Überhaupt nicht«, sagte ich. »Ganz im Gegenteil.« Auch als Arzt interessiert man sich für den ganzen Menschen, hätte ich hinzufügen können.
    »Wenn ich heute an die Zeit zurückdenke, in der sich die ersten Hinweise auf die Krankheit gezeigt haben, wird mir klar, wie naiv ich war«, sagte Jack. »Vielleicht erkennt man diese frühen Stadien gerade dann nicht, wenn die eigenen Eltern betroffen sind. Stattdessen erfindet man ständig irgendwelche Erklärungen.
    Einmal habe ich meinen Wagen zur Werkstatt gebracht und hatte mit meiner Mutter vereinbart, dass sie mich dort abholen soll. Damals gab es noch keine Handys, muss ich dazusagen. Ich saß über eine Stunde im Büro der Werkstatt, ohne dass sie aufkreuzte. Als ich schließlich mit dem Taxi nach Hause gelangt war, stellte ich fest, dass sie offenbar irgendwo anders hingefahren war. ›Ach, das war heute?‹, fragte sie später. ›Tut mir leid, das habe ich wohl glatt vergessen!‹ Im Rückblick weiß ich, das war wohl der Anfang, aber damals habe ich der Sache keine Bedeutung beigemessen.«
    Jack zählte eine Reihe weiterer Fehlleistungen auf, die sich ebenso belanglos anhörten, wenn man sie nicht in einen Zusammenhang stellte. »Zum Beispiel hat sie irgendwann damit angefangen, ständig ihren Schlüsselbund zu verlegen«, sagte er. »Wenn sie ihn nicht finden konnte, hat sie mir vorgeworfen, ihn zu verstecken. Dann habe ich versucht, vernünftig mit ihr zu reden und ihr klarzumachen, dass ich keine Gründe gehabt hätte, mich so zu verhalten. Das hatte überhaupt keinen Sinn. Jedes Mal, wenn sie das Ding wieder verloren hat, war sie davon überzeugt, ich hätte es versteckt.«
    Jack schüttelte den Kopf und setzte ein schiefes Lächeln auf. »Einmal hat sie den Schlüsselbund im Supermarkt auf der Käsetheke liegen lassen. Ein andermal hat sie den Autoschlüssel stecken lassen und die Tür mit der Verriegelung zugeworfen – während noch der Motor lief!«
    Nun lachte er sogar auf. Damals hatte er das allerdings sicher nicht besonders lustig gefunden.
    »Trotzdem sucht man in so einer Lage immer nach irgendwelchen ganz normalen Erklärungen. Zum Beispiel habe ich mir eingeredet, ihre Vergesslichkeit liege einfach daran, dass sie manchmal müde war. Irgendwann konnte ich den Kopf dann aber nicht mehr in den Sand stecken.«
    »Gab es da irgendein konkretes Ereignis?«, fragte ich.
    »Das gab es, aber erst mehrere Jahre nachdem sich die ersten Symptome gezeigt hatten. Unterbewusst muss mir allerdings schon klar gewesen sein, dass meine Mutter echte Probleme mit ihrem Gedächtnis hatte, denn ich habe damit angefangen, ihr heimlich mehrere Visitenkarten von mir in die Handtasche zu stecken. Ich dachte nicht darüber nach, warum ich das tat, aber ich habe wohl vorhergesehen, dass sie mich eines Tages brauchen würde, ohne zu wissen, wie sie mich erreichen kann.«
    Jack sah mich verschmitzt an. »Manchmal hat sie die Karten gefunden und mich gefragt, was das soll. Wenn ich ihr dann gesagt habe, das wäre nur für alle Fälle, wurde sie zornig auf mich. Sie hat die Karten vor meinen Augen in Fetzen gerissen oder einfach auf den Boden geworfen. Glücklicherweise hat sie jedoch nicht alle entdeckt, denn als ich eines Tages im Büro war, hat mich ein Postbote angerufen, der in einem anderen Stadtteil seine Runde machte. Er hat gefragt, ob ich der Sohn bin, und mir gesagt, ich soll so rasch wie möglich kommen. Da ich nicht wusste, was passiert war, bin ich fast in Panik geraten. Ich rannte aus dem Büro und sprang in meinen Wagen. Draußen war es kalt und regnete. An die Fahrt erinnere ich mich kaum mehr, aber ich muss mir wohl die schlimmsten Dinge ausgemalt haben.«
    Kein Wunder. Dieser Anruf eines Fremden an einem kalten, regnerischen Tag, der plötzliche Aufbruch und die Unsicherheit, was geschehen war. Jack drehte den Kopf zur Seite, und eine Sekunde dachte ich, er würde in Tränen ausbrechen. Das hatten irgendwann alle getan, mit denen ich bisher gesprochen hatte. Aber er nahm sich zusammen, und ich hatte den Eindruck, dass er vielleicht schon genug geweint hatte und nun damit fertig war.
    »Als ich endlich an Ort und Stelle war, bestätigten sich meine Befürchtungen. Kein Mensch auf der Welt will seine Mutter je so sehen, wie ich meine damals sah. Sie war durchnässt bis auf die

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