Oscar
Knochen und völlig verwirrt. Man sah, dass sie geweint hatte. Ihre Wimperntusche war am Gesicht herabgelaufen, so dass sie aussah wie ein trauriger Clown. Als ich sie fragte, wo ihr Wagen sei, brach sie regelrecht zusammen, weil sie keine Ahnung hatte. Sie war völlig verloren!«
Jack machte eine Pause. Offenbar durchlebte er jeden Augenblick jenes bedrückenden Tages noch einmal, als wäre es gestern gewesen. Als er weitersprach, klang seine Stimme leise und stockend.
»Wissen Sie, was komisch war? Selbst diese Sache hat mir nicht endgültig die Augen geöffnet. Ich wusste zwar, dass meine Mutter ein Problem hatte, weigerte mich aber, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das tat ich erst ein paar Wochen später, als ich auf einer Party war. Als ich dort einem Freund von der Sache mit dem Auto erzählte, fragte er mich ganz arglos, ob meine Mutter Alzheimer hätte. Das traf mich wie ein Blitzschlag.«
Verlegen hob er die Schultern. »Da sind so viele Dinge passiert, und trotzdem habe ich nicht erkannt, dass meine Mutter Alzheimer hatte, bis jemand, der sie gar nicht kannte, beiläufig auf einer Party davon gesprochen hat! Ich habe es völlig verdrängt.«
Verdrängung – das war der zentrale Ausdruck für eine Haltung, die ich sehr oft beobachtet habe. Schließlich machen wir alle gern Ausflüchte, statt uns damit zu beschäftigen, was wir nicht sehen wollen, selbst wenn es sich direkt vor unserer Nase befindet.
Da neigt man dann zu Sprüchen wie: »Meine Mutter ist heute eben müde« oder: »Mein Vater hat einfach den Kopf voll mit so vielen Dingen«. Trotz deutlicher Hinweise redet man die Symptome klein und verschließt die Augen. So funktioniert die menschliche Psyche eben, auch wenn das nicht immer logisch erscheint.
»Nachdem ich die Diagnose erfahren hatte, wurde mir klar, dass meine Mutter in meiner Nähe wohnen musste. Deshalb habe ich ihr eine Wohnung über dieser hier besorgt. Glücklicherweise hat sie sich kaum dagegen gewehrt, dass ich mich um ihre Finanzen kümmerte, und nach einer Weile habe ich sie tagsüber immer ins Seniorenzentrum gebracht, damit ich zur Arbeit gehen konnte. Zuerst hat sie sich bitter darüber beklagt, aber ich war hartnäckig. Schließlich hatte ich keine andere Wahl. Das wahrscheinlich einzig Gute an Alzheimer ist, dass die Betroffenen sich immer weniger beklagen, je weiter die Krankheit fortschreitet, und nachdem meine Mutter sich ein paar Wochen lang gewehrt hatte, gefiel es ihr im Zentrum wohl ganz gut. Das hat allerdings nur eine gewisse Zeit lang funktioniert, dann wurde es immer schwieriger für mich, für sie zu sorgen. Ich musste Hilfen einstellen, damit meine Mutter sich morgens anzog, ihre Medikamente nahm und nicht plötzlich aus ihrer Wohnung verschwand, während ich im Büro war.«
»Muss eine schwere Zeit gewesen sein«, sagte ich.
»Ja, vor allem, weil auch ihre Persönlichkeit sich verändert hat«, sagte Jack. »Sie ist fast von einer Minute zur nächsten von einem Extrem ins andere gefallen. Meine so warmherzige, liebevolle Mutter wurde paranoid und gemein, was sie früher nicht einmal ansatzweise gewesen war. Immer wieder rief mich eine der Helferinnen im Büro an und war in Tränen aufgelöst, weil sie so fies behandelt worden war. Wenn ich dann nach Hause fuhr, saß meine Mutter ganz unschuldig da und hatte keinerlei Erinnerung mehr daran, was sie getan hatte. Mit der Zeit wurden diese Persönlichkeitsveränderungen extrem.«
Wieder schwieg Jack eine Weile und blickte vor sich hin. »Allmählich wurde es immer anstrengender, für sie zu sorgen. Die Krankheit geht ja immer weiter, so dass man keine Erholungspause hat. Mein Partner, mit dem ich schon lange zusammen bin, war zwar sehr verständnisvoll, aber unsere Beziehung hat trotzdem gelitten. Vier Jahre lang bin ich nicht aus der Stadt herausgekommen. Ich habe mich immer mehr in mich zurückgezogen und war ständig deprimiert. Es war einfach so schlimm, zu sehen, wie meine Mutter immer mehr abbaute. Sogar mein Blutdruck ist stark angestiegen. Da habe ich eine Psychotherapie begonnen, um mit allem fertig zu werden, und dabei habe ich endlich begriffen, dass ich es nicht mehr alleine schaffen konnte. Meine Mutter musste ins Pflegeheim.«
»Haben Sie sich da schuldig gefühlt?«, fragte ich.
»Anfangs schon, aber nicht sehr lange, weil es schlicht und ergreifend nötig war. Sobald meine Mutter bei Ihnen im Heim angekommen war, wusste ich, dass ich das Richtige getan hatte. Die Übergangszeit war
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