Osiris Ritual
Licht, sodass alle
Gegenstände ihre Konturen verloren und verschwommene, weiche Ränder bekamen.
Newbury schnüffelte. Es war feucht, und die graue Suppe roch unangenehm. Er
rückte Hut und Halstuch zurecht und bot Veronica seinen Arm.
Zusammen traten sie auf die Pï¬asterstraÃe und hielten kurz inne, um
hinter sich die Tür zu schlieÃen. Der Künstlereingang führte direkt auf die Zufahrt
hinter dem Theater hinaus. Sie hatten diesen privaten Ausgang gewählt, um dem
Gedränge der Menschen zu entgehen, die jetzt, nach der Vorstellung, immer noch
durch den Hauptausgang herausströmten.
Newbury sah sich suchend um. Irgendwo links im Nebel wieherten
Pferde. Wahrscheinlich kurvten einige Droschken in der Gegend herum und
hofften, Fahrgäste aufzusammeln, da die Theaterbesucher trunken auf die StraÃe
stolperten und nach Hause befördert werden wollten.
Er blickte Veronica an, die in der Kälte den Kopf eingezogen hatte.
Sie schauderte. »Tja, der geheimnisvolle Alfonso war wohl doch nicht der böse
Bursche, den ich mir vorgestellt hatte. Was denken Sie?«
Er schüttelte den Kopf, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie
dieses Gespräch besser aufschieben sollten, bis sie ganz sicher auÃer Hörweite
waren. »Ich glaube, an Orten wie diesem haben auch die Wände Augen und Ohren.
Wir wollen uns eine Droschke suchen.«
Veronica zog den Mantel enger um sich und nickte. Sie tasteten sich
auf der StraÃe entlang und folgten dem Rinnstein, um sich im dichten
winterlichen Nebel nicht zu verirren.
Irgendwo rechts hörten sie ein Schluchzen. Eine Frau, und es klang
leise und erstickt.
»Hallo?« Veronica löste sich von Newbury, um die Quelle der
Geräusche zu finden. »Hallo?«
Newbury folgte ihr. Wieder ertönte das Schluchzen. »Veronica, hier
drüben.« Er näherte sich bereits der Gestalt, die sich im Nebel abzeichnete. Allmählich
entstanden vor ihm die Umrisse einer jungen Frau, die offensichtlich verstört
an der Mauer des Theaters lehnte. Er trat näher heran und legte ihr eine Hand
auf den Arm. »Meine Liebe, was ist denn los?«
Die Frau schaute auf, und Newbury wäre vor Schreck fast
zusammengezuckt. Sie hatte langes dunkles Haar und trug ein violettes Kleid.
Sie war jung und hübsch, über die Wangen rollten Tränen. Es war das Mädchen aus
dem Theater, das am Ende der Vorstellung verschwunden war. Sie schien verwirrt
und suchte in Newburys Gesicht nach den Antworten auf Fragen, die sie noch gar
nicht laut gestellt hatte. Schluchzend sagte sie: »Wo bin ich?«
Veronica, die längst neben Newbury stand, betrachtete sie besorgt,
aber auch neugierig. »Sie befinden sich vor dem Archibald Theatre. Sie haben
den Auftritt eines Zauberkünstlers gesehen. Erinnern Sie sich, dass Sie auf die
Bühne gestiegen sind?«
Die Frau nagte verlegen an der Unterlippe und schüttelte den Kopf.
Dann schniefte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Augen trocken. »Ich â¦
ich weià nicht. Ich kann mich nicht erinnern.« Sie
wimmerte beinahe. Ihr starker Akzent verriet, dass sie aus dem East End
stammte.
Newbury beugte sich vor, schnüffelte nach Gin und fragte sich, ob
sie vielleicht einfach betrunken war, doch sie roch nicht nach Alkohol. Sie
schien völlig nüchtern, aber schrecklich verwirrt zu sein. AuÃerdem nahm er
noch etwas anderes wahr, eine Chemikalie, die er nicht einordnen konnte. Er
runzelte die Stirn. »Wissen Sie denn noch Ihren Namen?«
Sie nickte. »Miss Annabel Myers.«
»Waren Sie heute Abend in Begleitung, Miss Myers?«
»Ja.« Wieder schluchzte sie. »Mein Bruder Jimmy war bei mir. Er
müsste eigentlich hier irgendwo sein.« Sie sah sich
um, doch es war schwer, im dichten Nebel irgendetwas zu entdecken.
Veronica lächelte mitfühlend. »Miss Myers, dürfen wir Sie vielleicht
nach Hause begleiten? Selbst wenn Ihr Bruder immer noch nach Ihnen sucht, wird
er in diesem Nebel nicht viel erreichen. Doch wenn wir Sie nach Hause bringen,
wird er sicher erleichtert sein, Sie dort nach seiner Rückkehr vorzufinden.«
Die Frau unterdrückte das Schluchzen. »Ja.« Und dann, etwas
energischer: »Ja, das ist sicher eine gute Idee. Ich wohne in der Nelson Street
sechsundzwanzig in Shoreditch bei meinem Vater.« Sie
betrachtete ihre Hand und hob sie, damit Veronica die kleinen Münzen sehen
konnte, die sie festhielt. »Ich
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