Osiris Ritual
Lage gebracht und verfügte nur über seine Gewitztheit, um heil
herauszukommen.
Auf einmal strich ein Schwall kalter Luft durch den Flur. Newbury
zog sich von der Tür zurück und blickte nach links. Auf der anderen Seite des
Treppenabsatzes, hinter der Reihe von Türen, die zu den anderen Wohnungen auf
dieser Etage führten, war ein groÃes Fenster eingelassen. Vermutlich blickte es
zur Rückseite des Hauses auf eine NebenstraÃe hinaus. Der Vorhang wallte
kräftig in der Zugluft. Also hatte jemand das Schiebefenster hochgeschoben.
Vorsichtig, um ja kein Geräusch zu machen, schlich Newbury hinüber
und betrachtete den Fensterrahmen und die Fensterbank, während er die Gardine
mit der rechten Hand abhielt. Es war viel zu kalt, als dass jemand das Fenster
der frischen Luft wegen geöffnet hätte. Er fuhr mit der linken Hand über den
Rahmen und suchte nach Anzeichen, ob es von auÃen aufgebrochen worden war, doch
der Riegel war intakt.
Er hielt den Hut fest, damit die Böen ihn nicht vom Kopf reiÃen
konnten, und beugte sich aus dem Fenster. Zu seiner Ãberraschung ging es
drauÃen nicht sehr tief hinab, nur wenig mehr als eine Mannshöhe. Dort unten
lag eine kleine Dachterrasse, die zu den tiefer gelegenen Wohnungen gehörte.
Jenseits davon standen weitere einstöckige Häuser, zwischen denen schmale
Gassen verliefen. Falls jemand das Fenster als Fluchtweg oder sogar als Zugang
benutzen wollte, war es nicht schwer, von der Terrasse aus auf die benachbarten
Dächer und von dort aus in die relative Anonymität der NebenstraÃen am Regentâs
Park zu gelangen. Er überlegte, ob er hinabklettern und sich umsehen sollte,
doch andererseits schnüffelte in der Wohnung immer noch ein Einbrecher herum,
den er nicht einfach so davonkommen lassen wollte. Das Fenster konnte warten.
Höchstwahrscheinlich hatte es ohnehin derjenige geöffnet â sofern es sich nicht
um Blake handelte â, der sich in der Wohnung befand.
Newbury huschte zur Tür der Wohnung Nummer sechs zurück. Er sammelte
seinen ganzen Mut, stieà die Tür sachte auf und hoffte, die Scharniere würden
nicht quietschen und seine Gegenwart dem Eindringling verraten. Unwillkürlich
hatte er sogar den Atem angehalten, um ja kein Geräusch zu machen. Die Tür
stockte ein wenig auf dem dicken bordeauxroten Teppich auf der anderen Seite,
doch Newbury konnte sich durchzwängen und eintreten.
Die Wohnung war offenbar gut möbliert und sauber. Von dem Flur
gingen drei Zimmer ab, direkt hinter der Tür stand ein kleiner Tisch, auf dem
zahlreiche ungeöffnete Briefe lagen. Vor allem fiel Newbury jedoch der Gestank
auf. Ein durchdringender Geruch nach verwesendem Fleisch und Fäulnis erfüllte
die Luft, beleidigte die Nase und lieà vor Ãbelkeit die Galle in die Kehle
hochsteigen. Die Quelle war unverkennbar: Ashford. Er musste der Eindringling
sein, der sich in dem anderen Raum befand.
Newbury tastete sich durch den Flur und hielt sich dabei dicht an
der Wand. Ein Stück weit konnte er in den Raum am anderen Ende des Flurs
spähen. Anscheinend war es die Küche. Er hielt inne und lauschte. Es war
unverkennbar, dass gleich im nächsten Raum, vor dem Newbury stand â
wahrscheinlich war es der Salon â, irgendjemand Blakes Habseligkeiten
durchwühlte.
Der Agent der Krone wechselte auf die andere Seite des Flurs, bis er
vor der Tür des Salons, aber mit dem Rücken zur schützenden Wand stand. Er
schlich noch etwas näher, um durch die offene Tür in den Raum zu lugen. Die
hintere Hälfte konnte er von seinem Standort aus gut überblicken. Dort war der
wuchtige, schlichte Kamin, in dem kein Feuer brannte. Auf dem Sims standen
Fotografien und kleine Statuen. Wilfred Blakes blutiger Leichnam lag
ausgestreckt auf dem Boden.
Newbury hätte beinahe laut gekeucht. Blake trug einen schwarzen
Abendanzug und ein weiÃes Hemd, auf dem schmutzig rotes Blut geronnen war. Noch
mehr Blut hatte sich in einer Lache unter dem Kopf gesammelt und klebte in den
Haaren. Das Gesicht war zur Tür gedreht, sodass Newbury den geöffneten, stummen
Mund und die trüben, verdrehten Augen erkennen konnte. Man hatte ihm mit einer
stumpfen Klinge die Kehle durchgeschnitten. Rings um den Toten waren Dokumente
und alte ägyptische Artefakte verstreut, die der Mörder während seiner
hektischen Suche einfach hatte zu Boden fallen lassen. Dieses
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