Osiris Ritual
zu behalten. Nun hatte sie sich jedoch mit ganzer Kraft auf
das Rätsel der vermissten Frauen gestürzt. Irgendetwas an diesem Fall,
irgendetwas an der Art und Weise, wie die Frauen aus ihrem Alltagsleben
gerissen worden waren, berührte sie sehr. Nicht nur das, sie verspürte das
dringende Bedürfnis, diesen jungen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Die Polizei schien sich kaum für ein paar vermisste Mädchen aus den Armenvierteln
zu interessieren, und obwohl Veronica Sir Charles gegenüber ihre Gefühle klar
zum Ausdruck gebracht hatte, sah sie sich von vielen Polizisten, die sie um
Hilfe bat, geringschätzig behandelt. Ihr kochte das Blut, wenn sie nur daran
dachte.
Vielleicht erinnerte sie das Los dieser vermissten Frauen auch ein
wenig an ihre Schwester Amelia, die blutjung aus dem Kreis der Familie gerissen
und in eine Reihe öder Sanatorien gesteckt worden war, wo sie in Einsamkeit
leiden musste. Vielleicht war dies Veronicas wahrer Beweggrund, sich so sehr
auf die vermissten Frauen zu konzentrieren. Zugleich erkannte sie aber auch,
dass die Polizei auf der Stelle trat. Sir Charles war mit Winthrop beschäftigt,
Sir Maurice half ihm dabei, und sie konnte nichts tun, auÃer weiterzumachen.
Hoffentlich konnte sie den Fall lösen, ehe noch weitere Frauen in die Fänge des
zwielichtigen Zauberers gerieten und verschwanden. Natürlich schmerzte es sie,
Newbury hintergehen zu müssen, und ihr war klar, dass dies einen Keil zwischen
sie treiben würde. Sie würden einander nicht mehr offen in die Augen blicken
können, doch einen anderen Weg gab es wohl nicht. Eines Tages würde die
Wahrheit ans Licht kommen. Sie konnte nur hoffen, dass Sir Maurice dann nicht
jegliches Vertrauen zu ihr verlor oder sie sogar fortstieÃ. Das würde sie nicht
ertragen, er war ihr viel zu sehr ans Herz gewachsen. AuÃerdem, so redete sie
sich ein, handelte sie ja nur in seinem eigenen, besten Interesse â und
zugleich im Interesse des Empire â, auch wenn sie im Hinterkopf genau wusste,
dass Sir Maurice es anders sehen würde. Es war ein Verrat. Ein äuÃerst
wohlwollender zwar, aber dennoch ein Verrat.
Sie schob diese Gedanken beiseite, als sie sich dem Theater näherte.
Sofort wurde ihr klar, dass es geschlossen war. In den Schaukästen hingen Zettel,
die alle angehenden Besucher darüber informierten, dass die Abendvorstellung
ausfallen würde. Nicht einmal im Vorraum brannten die Lampen. Mit gerunzelter
Stirn rüttelte Veronica an der Tür. Zu ihrer Ãberraschung war sie nicht
versperrt. Sie blickte sich noch einmal nach links und rechts um und wagte sich
ins düstere Foyer. Der Portier war weit und breit nicht zu sehen, die Kioske
und Kartenschalter an den Seitenwänden der Lobby waren verlassen. Wie der Rest
des heruntergekommenen Theaters war auch das Foyer einst ein prachtvoller Raum
und der erlauchtesten Gäste würdig gewesen. Der Boden war mit strahlend weiÃem
Marmor ausgelegt, der inzwischen jedoch mit einer Patina aus Staub und Dreck
von unzähligen derben Schuhen überzogen war. Hohe korinthische Säulen
ï¬ankierten stolz den Durchgang in den Theatersaal. Links lagen die
Kartenschalter im Dunklen, die Rollläden waren herabgelassen und verdeckten die
Scheiben. Rechts gab es eine Reihe kleiner Kioske, wo die hungrigen Besucher Speisen
und Getränke erstehen konnten. Auch sie standen stumm wie verlassene kleine
Inseln im Zwielicht.
Veronica holte tief Luft. Beinahe hätte sie auf der Stelle
kehrtgemacht und das Theater wieder verlassen, da sie nicht damit rechnete,
jemanden anzutreffen. Auf einmal aber hörte sie aus dem Theatersaal ein
mehrfaches leises Klirren. Vielleicht bestand doch noch Hoffnung, Alfonso zu
finden und zur Rede zu stellen, ehe der Tag vorüber war, denn sobald auch er
irgendwie verschwunden war, würde die Fährte rasch erkalten.
Leise, um diejenigen, die im Hauptraum arbeiteten, nicht zu stören,
näherte Veronica sich dem Zugang zum Parkett. Sie zog den schweren Samtvorhang
zur Seite und spähte zur schwach beleuchteten Bühne. Die Dunkelheit kam ihr
fast körperlich greifbar vor, sie hatte etwas Bedrückendes. Die leeren Logen
und Sitze erstreckten sich vor ihr wie ein erstarrtes Meer. Sie schauderte. Das
einzige Lebewesen war ein Mann, Alfonso selbst, der im grellen Schein einer
elektrischen Lampe auf der Bühne stand. Er machte eine frustrierte
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