Osiris Ritual
wie Sie und ich, die ein groÃes Interesse am
Okkulten haben, messen einer solchen Geschichte überhaupt irgendeine Bedeutung
bei, und das noch nicht einmal wegen der historischen Zusammenhänge.«
Newbury war nicht überzeugt. »Was soll das heiÃen? Glauben Sie,
Khemosiri habe wirklich einen Weg gefunden, das Leben über die natürliche
Spanne hinaus zu verlängern?«
Renwick lachte. »Natürlich nicht. Ich denke aber, er hat es geglaubt, und andere haben wiederum ihm geglaubt.
Der Pharao natürlich und die Priester, die ihn auf so grausame Weise sterben
lieÃen. Das ist aber noch nicht alles. Angeblich hatte er ja ein groÃes Gefolge
von Anhängern, die seinen Glauben teilten und ihm bei seinen bizarren Praktiken
zur Seite standen. Als die Soldaten sein Haus ausräumten, fanden sie jedoch
keine Aufzeichnungen und keine Spur des sogenannten Osirisrituals. Sie fanden
nur eine Menge Leichen, die Opfer seiner grausamen rituellen Experimente. Es
waren junge Frauen, denen man Löcher in die Schädel gebohrt hatte. Niemand weiÃ
es genau, aber es heiÃt, seine Anhänger hätten seine Geheimnisse gehütet und
seien mit ihm begraben und irgendwo in seiner Grabstätte versteckt worden. Die
Anhänger wollten ihn wiedererwecken und Khemosiri ein neues Leben schenken,
genau wie auch der ursprüngliche Osiris von seiner geliebten Isis aus dem
Totenreich zurückgeholt worden war. Das ist jedoch gröÃtenteils Spekulation und
Legende. Wir haben absolut nichts Konkretes in der Hand.«
»Abgesehen von einer Leiche, die beweist, dass sie ihr Ziel nicht
erreicht haben.«
Renwick lachte. »Allerdings.« Er zog ausgiebig an seiner Zigarette
und sah dem Rauch nach, der nach dem Ausatmen träge um ihn wallte. »Das war
aber nicht der Punkt, auf den ich hinauswollte.«
Newbury nickte. »Richtig. Ich kann Ihre Ãberlegungen nachvollziehen.
Wenn es andere gab, die damals an das Ritual glaubten, dann könnte es heute
immer noch Anhänger geben.«
Renwick lächelte zufrieden. »Genau das meine ich. Der Mann, der Lord
Winthrop getötet hat, war vielleicht auf der Suche nach den Geheimnissen des
Rituals. Ich bezweiï¬e sehr, dass Winthrop eine Vorstellung hatte, was er da
gefunden hat.«
»Nein, das wusste er nicht.« Newbury lehnte
sich zurück und stützte das Kinn auf die Faust. Es war unmöglich, Ashfords
Motive zu ergründen. Er hatte sich fünf Jahre lang in Sankt Petersburg
versteckt, am Leben gehalten von den Maschinen, die Dr. Fabian ihm in den
zerstörten Körper gesteckt hatte. War er übergelaufen? Arbeitete er jetzt für
die russische Regierung? Oder hatte er die ganze Zeit versucht, einen Weg zu
finden, um zu seinem alten Leben zurückzukehren, und sich vor Verzweiflung dem
Okkulten zugewandt? Vielleicht glaubte er, das Osirisritual werde seinen Körper
irgendwie in den früheren Zustand zurückverwandeln. Die Antworten konnte
Newbury nur erfahren, wenn er den Mann fand und festnahm.
Er blickte Renwick an. »Kennen Sie sonst noch jemanden, der zwischen
Winthrops Leiche und der Geschichte von Khemosiri eine Verbindung herstellen
könnte?«
Renwick dachte eine Weile nach, ehe er antwortete. »Nein. Unter
anderen Begleitumständen hätte ich vielleicht Sie genannt. Sonst fällt mir
niemand ein, jedenfalls nicht in London, der Zugang zu den betreffenden Texten
hätte. Auf so etwas stöÃt man nicht unversehens in einer Fachzeitschrift.« Er hielt inne und klopfte mit den Knöcheln auf seinen
Arbeitstisch. »Sie sollten vielleicht mit Wilfred Blake über die Angelegenheit
sprechen, denn er hat ja Lord Winthrop auf der Expedition begleitet. Vermutlich
kann er Ihnen nicht viel Neues erzählen, aber soweit ich weiÃ, ist er sehr an
mystischen Dingen interessiert.«
Newbury zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich?« Das warf ein ganz
anderes Licht auf den Mann, den er auf der Party mit Winthrop hatte streiten
sehen. Vielleicht war sein Alibi doch nicht ganz so wasserdicht, wie es
Scotland Yard zunächst erschienen war. Newbury hatte sich am vergangenen Abend
von Charles die Adressen aller Expeditionsteilnehmer geben lassen. Er hatte
ohnehin schon mit dem Gedanken gespielt, Blake am Nachmittag einen Besuch
abzustatten, und nun war offenbar noch ein zweiter guter Grund hinzugekommen.
Er trank den Tee aus, beugte sich vor und stellte die leere Tasse und
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