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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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meinen Zeilen zu verbannen, denn das, was als Tragödie endete, nahm seinen Anfang in der Politik. (Was wohl kaum verwundern dürfte.)
    Stellen Sie sich ein Bankett auf der sagenhaften Burg Helsingör vor: Eberköpfe, Schafsaugen, Entenbürzel, Gänsebrüste, Kalbslebern, Kaldaunen, Fischrogen, Wildlenden und Schweinsfüße. (Hier wird die ganze Anatomie auf den Tisch gestellt; würde man die verschiedenen Gerichte zu einem einzigen essbaren Tier zusammenfügen, würde ein Ungeheuer dort liegen, seltsamer noch als ein Hippogreif oder ein Ichthyocentaurus.)
Heute Abend bewirten Horwendillus und seine Gertrude Fortinbras und hoffen, seine Landgier zu beschwichtigen, indem sie die nicht weniger große Expansionsbegeisterung seines Bauches befriedigen, wozu es nicht mehr bedarf als des Mordes an obengenanntem mythischen Ungeheuer – eine weit angenehmere & wahrhaftig geschmackvollere Strategie als ein Krieg.
    Und ist es nicht denkbar, dass F. beim Anblick des mit den zerlegten Gliedmaßen dieses beängstigend vielgestaltigen und überaus geheimnisvollen Wesens überladenen Tisches vor seinem inneren Auge das ganze zusammengesetzte Biest erstehen lässt, mit einem Geweih auf dem gigantischen Truthahnkopf und Hufen unter dem unheimlich geschuppten Leib mit den behaarten Flanken, und darauf plötzlich den Appetit auf den Kampf verliert (weil er fürchtet, auf den dänischen Schlachtfeldern einem mächtigen Geschlecht von Jägern gegenüberzustehen, die ein so wildes Ding erlegen) und sogleich auch aufhört, Hunger auf Dänemark zu haben?
    Sei’s drum. Ich habe mich bei dem Bankett nur aufgehalten, um zu erklären, warum Königin Gertrude, ganz und gar mit Diplomatie sowie mehreren Sorten Fleisch beschäftigt, nicht in der Lage war, hinaufzugehen und ihrem Sohn gute Nacht zu sagen.
     
    Ich müsste Ihnen den schlaflosen Hamlet im Bett zeigen, aber wo gibt es den Menschen, der eine Abwesenheit schildern könnte? – des Schlafes, meine ich, und eines mütterlichen Kusses auf die Wange, denn eine ungeküsste Wange gleicht in allen Einzelheiten einer Wange, für die keinerlei Oskulation zu erhoffen ist. Und ein Knabe, der ausgestreckt auf seiner Bettstatt liegt und unter den Positionswechseln & anderen für die Schlaflosigkeit charakteristischen Unruhezeichen leidet, könnte ohne weiteres für ein Kind gehalten werden,
das von einem Floh heimgesucht wird; oder einem Fieber; oder schmollt, weil es vom Tisch der Erwachsenen verbannt wurde; oder in diesem Textilienmeer das Schwimmen übt; oder weiß G... was sonst noch, denn ich weiß es nicht. Doch Abwesenheit bewirkt, das ist wohlbekannt, dass sich das Herz noch inniger sehnt; also steht Amlethus auf und schleicht auf Zehenspitzen durch die Korridore, und zwar folgendermaßen (wobei jeder Punkt für die Verbindung einer Zehenspitze mit dem Fußboden steht): ... / ... / ... / ... / ... / etc. etc.
    ... bis er (um ebenso flink zu sein wie er) Gertrudes Gemach erreicht, hineinstürzt und beschließt, sie dort zu erwarten, damit ihm das, was auf seiner Wange fehlt, endlich dargeboten werden kann: ein Lethe-Kuss der Mutter, und er wird endlich schlafen können.
    (Wie sich herausstellte, erwies sich das als ein lethaler Plan.)
     
    Und nun möchte ich Ihnen pantomimisch schildern, was darauf folgte (denn ich befürchte, meine magere Zuteilung an Seiten könnte noch vor meiner Erzählung zu Ende sein, weswegen meine handelnden Personen zum Ausgleich für meine anfängliche Weitschweifigkeit gezwungen sein werden, Gebärdensprache, Tableaus und andere das Tempo fördernde Mittel anzuwenden, die dem tragischen Inhalt der Geschichte nicht entsprechen. Aber was hilft’s; meine momentane, langatmige Narrheit muss diese Alten zu Narren machen. So macht Hast, uns aufgezwungen durch unser unvermeidliches Ende, Yoricks aus uns allen):
    Hamlet entgeistert: Stimmen draußen vor der Tür! Nicht nur die seiner Mutter, sondern auch die eines stürmischen, berauschten Wüstlings. – Schnell, versteck dich! – Aber wo? – Hinter der Tapete, keine Sekunde verlieren! – Er versteckt sich. (Und so könnte man sagen, dass er sich später im
Leben selbst erstochen hat, weil sein Kindes-Ich in der Erinnerung noch immer an diesem Ort verweilte, nur ergraut und in polonialer Gestalt.)
    Oh, was er da hört! Diesen grunzenden, röhrenden Mann! Das Quietschen und Schreien seiner Mutter – ah, zerbrechlicher Schrei einer Mutter! – Wer bedroht die Königin? – Tapfer späht der Prinz hinter der

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