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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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das größte Bauwerk dort war ein kleiner weißer Vishnu-Tempel – hatte die Familie eine abgewandelte Version des indischen Bhojpuri-Dialekts gesprochen, die im Laufe der Jahre so kreolisiert worden war, dass sie für alle außer für Mauritius-Inder so gut wie unverständlich war. Da sie selbst nie in Indien gewesen war, machten mich meine Geburt, meine Kindheit und die ständige Verbindung dorthin in ihren Augen so lächerlich anziehend wie einen Besucher aus Xanadu. Denn seine Nahrung war Honigseim, Und seinen Durst stillte er mit der Milch des Paradieses.
    Obwohl sie, wie sie es ausdrückte, «von der Wissenschaft» kam, interessierte sie sich für die Schriftstellerei, und es gefiel ihr, dass ich Schriftsteller werden wollte. Sie war sehr stolz auf «Romeo und Julia auf Mauritius», wie sie Bernardin de St. Pierres «Paul et Virginie» nannte, und bestand darauf, ich müsse den Roman lesen. «Vielleicht wird es dich beeinflussen», erklärte sie hoffnungsfroh.
    Sie verfügte über die gegen Ekel gefeite Abgebrühtheit
und den praktischen Sinn eines Mediziners, und wie alle, die «von der Kunst» kamen, beneidete ich sie um ihre Kenntnisse von der Innenansicht des Menschen. Was ich mir über die Natur des Menschen zusammenreimen musste, schien sie allem Anschein nach genau zu wissen. Sie redete nicht viel, aber ich hatte das Gefühl, in ihr meinen Fels in der Brandung gefunden zu haben. Und bei Nacht wogten in ihren Adern die dunklen Gezeiten des Indischen Ozeans.
    Was sie jedoch ärgerte, das war offenbar Eliot – und die Tatsache, dass ich ihm so nahestand. Sobald sie als meine Ehefrau etabliert war – unsere Hochzeitsreise ging nach Venedig –, machte sie ihrer Beunruhigung mit dem, was für sie eine größere Ansprache war, Luft: «Dieser ganze Hokuspokus! », begann sie höhnisch und voll naturwissenschaftlicher Verachtung für das Irrationale. «So was von Humbug, großer Gott! Weißt du, was? Er taucht viel zu oft hier auf, und das ist einfach nicht gut für dich. Was ist er denn eigentlich? Nichts weiter als ein englischer Wirrkopf. Kapierst du, was ich sagen will, Schriftsteller-Sahib? Ich meine, schön, diese Bekanntschaft gemacht zu haben, et cetera, aber jetzt solltest du die Finger von ihm lassen.»
    «Waliser», korrigierte ich sie erstaunt. «Er ist Waliser.»
    «Spielt keine Rolle», fuhr Doctor (Mrs.) Khan auf. «Die Diagnose trifft trotzdem zu.»
     
    Aber in Eliots riesigem geistigen Lagerhaus mit seinem reichhaltigen Sortiment an «verbotenem Wissen», das er so großzügig mit anderen teilte, glaubte ich eine alternative Möglichkeit gefunden zu haben für eine Verbindung zwischen dem Hier und dem Dort, zwischen dem einen und dem anderen Anderssein meiner doppelten Nichtzugehörigkeit. In jener Welt der Magie und hypnotischen Kräfte schien es eine Art Fusion der Weltsichten zu geben, europäisch-amer-indisch-orientalisch-levantinisch,
an die ich verzweifelt zu glauben versuchte.
    Mit Eliots Hilfe hoffte ich, ein «verbotenes Ich» schaffen zu können. Die wahrnehmbare Welt, nur noch Zynismus und Napalm, schien ganz und gar ohne Güte und Weisheit zu sein. Das verborgene Reich jedoch, in dem Sufis mit Adepten lustwandelten und große Geheimnisse erahnt werden konnten, würde mich lehren, weise zu sein. Es würde mir – Eliots Lieblingswort – Harmonie schenken.
     
    Mala hatte recht: Er vermochte niemandem zu helfen, der arme Tor; nicht einmal sich selbst. Letztlich kamen ihn seine Dämonen doch noch holen, sein Gurdjieff und Ouspensky, sein Crowley und Blavatsky, sein Dunsany und sein früher Lovecraft. Sie verscheuchten die Schafe von seinem Waliser Hügelhang und bedrohten seinen Verstand.
    Harmonie? Noch nie hat man einen so furchtbaren Spektakel gehört wie den Lärm, der in Eliots Kopf tobte. Die Psalmodien von Swedenborgs Engeln, die Kirchenlieder, die Mantras, die tibetanischen Gesänge mit ihren Zwischentönen. Welches menschliche Gehirn hätte sich gegen ein solches Babel wehren können, in dem Theosophen mit Konfuzianern stritten, Christian Scientisten mit Rosenkreuzlern? Hier priesen Anhänger die Ankunft Lord Maitreyas; dort schleuderten blutsaugende Hexenmeister Flüche. Und siehe, es kamen Millennarier und verkündeten den Weltuntergang; und siehe, Hitler stand auf und schwenkte sein Hakenkreuz, dem er in seiner Ignoranz oder Bösartigkeit den Namen des Symbols des Guten gab: Swastika, Sonnenrad.
    In der Menge, die den Kranken von Crowley End bedrängte, war sogar

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